"Mehr Menschen in Deutschland, die gut sind"
Französischer Politologe Alfred Grosser im Gespräch mit Schülern
Der feine, ältere Herr in elegantem, dunkelgrauem Anzug mit roter Krawatte tritt an das Rednerpult, schaut freundlich mit schalkhaftem Charme im Blick auf die gut 300 vorwiegend jugendlichen Zuhörer und begrüßt das Publikum mit „So, liebe alle!“ Spätestens in diesem Moment hat Alfred Grosser, französischer Politologe, herausragender Intellektueller und ideeller Wegbereiter des Elysée-Vertrags, bereits die Aufmerksamkeit und die Zuneigung der versammelten Schüler erobert.
Das Dante-Gymnasium hatte zusammen mit dem Institut français Alfred Grosser zu einem Gespräch über die „Gemeinsamen Werte im Europa des 21. Jahrhunderts“ geladen, an dem Schüler der bayerischen AbiBac-Schulen, darunter das Werner-Heisenberg-Gymnasium Garching, das Oskar-von-Miller-Gymnasium München und das Dante-Gymnasium, sowie Schüler des Lycée Jean Renoir München, der Europäischen Schule München, des Käthe-Kollwitz-Gymnasiums und des Klenze-Gymnasiums teilnahmen.
Respekt für Merkel
Nach der Begrüßung durch Bernhard Fanderl, Schulleiter des Dante-Gymnasiums, und der Veranstaltungseröffnung durch den französischen Generalkonsul Jean-Claude Brunet, begann Alfred Grosser mit einer kurzen Einleitung, in der er auf die aktuelle Situation Deutschlands einging. Er drückte unumwunden seine Bewunderung für die Handlungsweise der Bundeskanzlerin in der Flüchtlingsfrage aus und zollte ihrem viel zitierten Satz, dass Deutschland nicht ihr Land wäre, wenn es hilfesuchende Menschen nicht willkommen heiße, Respekt, da, so Grosser, Angela Merkel diese Haltung wohlwissentlich hunderttausende von Wählerstimmen bei der nächsten Bundestagswahl kosten werde. Dann leitete er über, dass die deutsch-französische Freundschaft von Anfang an auf die Ethik des Widerstandes gegen Hitler gegründet war, und rief ausdrücklich in Erinnerung, dass es auch in Deutschland unter Hitler Widerstand gegeben habe, indem er vor allem an die Weiße Rose erinnerte. Deshalb sei es auch heute noch die Aufgabe aller Deutschen, der alten und der jungen, so oft es geht, den Mund gegen Verfolgung aufzumachen. Daraufhin entwickelte sich rund zwei Stunden lang ein lebhaftes Gespräch zwischen Alfred Grosser und den Schülern. Grosser beantwortete die nicht enden wollenden, vielseitigen, klugen Fragen der jungen Menschen.
Kritik an Frankreich
Bezüglich der aktuellen Flüchtlingssituation äußerte sich Grosser kritisch gegenüber Frankreich, das momentan nicht so viele Flüchtlinge wie Deutschland aufnimmt, aber dessen Aufnahmebereitschaft steigt. Frankreichs Zurückhaltung lasse sich vor allem mit der großen Angst vor weiteren Stimmengewinnen der rechtsextremen Partei von Marine Le Pen erklären. Es sei schön, dass München die Flüchtlinge willkommen heiße. Er könne allerdings seit den letzten Äußerungen von Herrn Seehofer nicht mehr verstehen, was das C in CSU noch zu suchen habe, da „christlich“ bedeute, Menschen in Not aufzunehmen. Wenn man einen Vergleich mit dem Libanon zieht, der bei weitem die meisten Flüchtlinge aus Syrien aufnimmt, so würde das für Deutschland bedeuten, 20 Millionen Syrern Asyl zu gewähren.
Zwei Szenarien für Europa
Für die weitere Entwicklung Europas entwickelte Grosser zwei Szenarien: Die mögliche negative Entwicklung sei ein Austritt Großbritanniens aus der EU, was den Austritt weiterer Länder nach sich ziehen würde. Dann sei die EU kaputt und Europa gescheitert. Die mögliche positive Entwicklung sei, dass im Grunde niemand, auch nicht Marine Le Pen oder Griechenland, ernsthaft einen Austritt aus der Europäischen Union wolle, sondern alle den Euro behalten wollten. Dann werde man einsehen, dass sich Europa positiv mit gemeinsamen Grundwerten weiterentwickeln müsse, dass man solidarisch miteinander und solidarisch nach außen leben müsse, und Europa werde stärker. Und Grosser setzt, was den Zusammenhalt der EU betrifft, auf Schottland: „Es lebe Schottland! Denn wenn Großbritannien aus der EU austritt, dann tritt Schottland aus Großbritannien aus. Das ist ein großer Druck auf Großbritannien.“
Angesprochen auf die deutsch-französische Freundschaft als einzigartiges Konstrukt antwortete Grosser humorvoll-trocken: „Ist es nicht.“ Es gebe zwei Ebenen dieser Freundschaft. Auf der politischen Ebene gebe es oft Konflikte, es fehlten neue Vorschläge. Anders sei es auf der gesellschaftlichen Ebene: Dort sei die deutsch-französische Freundschaft in allen Bereichen „wunderbar“, sie sei viel stärker als beispielsweise die Freundschaft zu Italien oder zu Großbritannien. „Die menschliche Infrastruktur hält auch, wenn’s oben schlecht ist.“ Das sei sehr wichtig.
"Haben nie über Geld geredet"
Als Grosser über die Erziehung seiner eigenen vier Söhne und seiner Enkelkinder Auskunft geben sollte, antwortete er: „Ich weiß gar nicht, ob wir sie erzogen haben. Wir haben ein Gutes gemacht. Wir haben nie über Geld geredet.“ Geld herrsche heute über die Welt, weil in den Familien permanent über Geld geredet werde. „Die Bösen sind die, die mit Neid auf die schauen, die mehr Geld haben. Die Guten sind die, die mit schlechtem Gewissen auf die sehen, die weniger haben.“ Und als ein Schüler nachfragte, ob Deutschland nicht Kriege und Menschenrechte ziemlich egal seien, wenn es ums Geld ginge, antwortete Grosser: „Heute sehe ich mehr Menschen in Deutschland, die gut sind, als die, die schlecht sind.“
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