"Kein Wort kommt so oft vor wie Zuhause"
Der Verein Zeltschule e.V. sorgt für die Bildung von syrischen Flüchtlingskindern im Libanon
Was Ende 2015 mit einer neunmonatigen Spendenaktion an einer Schule in München begonnen hatte, ist heute ein großes Projekt, mit dem versucht wird, dem Leben der syrischen Flüchtlingskinder und ihrer Familien im Libanon, aber auch in Syrien selbst eine Perspektive zu geben: der Verein Zeltschule e.V.
Ziel der Geldsammlung damals war die Errichtung einer Schule in einem der Flüchtlingscamps. Die Übersetzerin Jacqueline Flory, die durch ihre Arbeit immer wieder im arabischen Raum unterwegs war, hatte den Anstoß für die Aktion gegeben. Sie wollte Flüchtlingskindern im Libanon eine Möglichkeit zum Lernen geben. Im Sommer 2016 wurde die Schule tatsächlich gebaut und der Verein gegründet. Heute sind es 34 Schulen, die der Verein betreut – 17 im Libanon und 17 in Syrien. Zwei weitere sollen im August eröffnet werden.
7.000 Kinder werden unterrichtet
Sie habe eigentlich nie so ein großes Projekt geplant, sagt Jacqueline Flory. Es sei gewachsen. Und dann erzählt sie von der glücklichen Fügung, dass der BR damals auf die Schulaktion aufmerksam geworden sei und ein Kamerateam in den Libanon geschickt habe, das den Schulbau dokumentiert habe. Nach der Ausstrahlung seien so viele Spenden eingegangen, dass noch 2016 drei weitere Schulen eröffnet werden konnten.
"Wir haben 7.000 Kinder im täglichen Unterricht", berichtet Flory., die sich inzwischen ganz dem Verein widmet. Denn an dem Projekt hängen mittlerweile noch viele andere Dinge. Neben den Kindern werden auch Frauen unterrichtet, die nie Lesen und Schreiben gelernt haben. In Syrien sei das Gefälle zwischen Stadt und Land sehr groß, erläutert die Initiatorin. Während es ganz normal sei, dass Frauen aus Damaskus und Homs akademische Ausbildungen hätten, seien Frauen aus den ländlichen Gebieten größtenteils Analphabetinnen.
Leben und Miete müssen finanziert werden
Außerdem werden die Familien und die Lehrer, die selbst Flüchtlinge sind, von Zeltschule e.V. mit Lebensmitteln versorgt und vom Verein auch die Miete für den Boden bezahlt, auf dem die Behausungen der Campbewohner stehen. Das ist notwendig, damit die Kinder nicht auf die Felder der umliegenden Großgrundbesitzer zum Arbeiten geschickt werden, damit die Miete finanziert werden kann. Die erwachsenen Flüchtlinge dürfen im Libanon nämlich nicht arbeiten, bei den Kindern besteht seltsamerweise eine Grauzone, so dass sie für den Lebenunterhalt der Familien sorgen müssen.
Gleichzeitig werden Workshops für die Frauen veranstaltet, die keine Ausbildung haben. Dort erlernen sie das Handarbeiten und stellen Stofftiere, bestickte Notizbücher und viele andere selbstgemachte Produkte her, die der Verein vor der Corona-Pandemie bei den verschiedensten Veranstaltungen in München verkauft hatte und heute über einen Online-Shop vertreibt.
Keine öffentlichen Gelder
"Um den Status quo zu erhalten, brauchen wir 1,8 Millionen Euro jedes Jahr", erläutet Jacqueline Flory. Öffentliche Gelder beantragt der Verein nicht, denn diese müssten in Absprache mit der libanesischen Regierung verwendet werden und Flory und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter bezweifeln, dass das Geld dann tatsächlich da ankommen würde, wo es gebraucht wird. Stattdessen sind es die Spenden, die die Aktivitäten von Zeltschule e.V. ermöglichen – 80 Prozent sind Einzelspenden zwischen 50 und 200 Euro. Auf der Homepage des Vereins www.zeltschule.org findet man detaillierte Berichte zur Arbeit des Vereins und verschiedene Spendenpakete, mit denen man helfen kann.
Ein Buch für jedes Kind
Zu seinem 5. Geburtstag in diesem Sommer versucht der Verein allen 7.000 Kindern, die derzeit in die Zeltschulen gehen, ein eigenes Buch zu beschaffen. Schulbücher müssten geteilt werden, erklärt Jacqueline Flory. Doch jetzt solle jedes Kind, ein eigenes Buch zum Lesen erhalten, mit dem es für eine Zeitlang die Realität um sich herum vergessen könne – eine Realtität, die trostlos ist.
Viele Familien leben seit zehn Jahren in den kleinen Zelten ohne Wasser und Strom, zur Untätigkeit verdammt, ohne Möglichkeit, das eigene Leben zu gestalten und ohne Aussicht auf Rückkehr. Der Libanon ist selbst ein Land am Abgrund, die Lage dort verschlechtert sich dramatisch.
Großer Wille, die Zukunft positiv zu gestalten
Umso wichtiger sei es, nicht eine ganze Generation als Analphabeten aufwachsen zu lassen und sie damit empfänglich für extremistische Strömungen zu machen, betont Flory. Trotz allem sei die Hoffnung der Menschen in den Camps nämlich noch nicht geschwunden. Wenn sie mit den Familien spreche, so spüre sie deren "großen Willen, die Zukunft positiv zu gestalten. Kein Wort kommt so oft vor wie Zuhause." Nach Deutschland wollen diese Menschen nicht, sondern irgendwann zurück in ihre Heimat, wo sie derzeit unter der Regierung Assad Verhaftung, Folter und womöglich der Tod erwarten würde.
Sie verstehe nicht, sagt Flory, warum Europa und seine Regierungen, wenn sie schon keine oder nur ungern Flüchtlinge aufnehmen wollten, dann nicht die Nachbarländer des Syrienkonflikts dabei unterstützten, die Flüchtlinge in deren Region menschenwürdig zu versorgen. "Warum, um Himmels willen, helfen wir nicht dabei, dass sie im Libanon menschenwürdig leben können?"
Der Verein Zeltschule e.V. jedenfalls will weiterhin für die Kinder und Familien in den Lagern da sein. Die Aufgabe ist gewaltig. Es gibt ungefähr 2.000 unbetreute Flüchtlingscamps im Libanon.
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