"Etwas zutiefst Menschliches"
Vertrauen: Wie wissen wir, auf wen wir uns verlassen können?
Es war einmal ...
Es war einmal ein Kaiser, der ließ sich von zwei Betrügern für viel Geld neue Gewänder anfertigen. Doch sie lieferten – nichts. Sie behaupteten, des Kaisers neue Kleider seien nur für kluge Leute zu sehen. So ging der Kaiser nackt unters Volk und alle machten den Schwindel sehenden Auges mit.
Des Kaisers neue Kleider erzählen von Skepsis und Vertrauen und vom Mut, sich etwas zu trauen.
In diesem Jahr ist jedes unserer Sommergespräche lose mit einem Märchen verknüpft. Bei Hans Christian Andersens "Des Kaisers neue Kleider" stehen die Begriffe trauen und vertrauen im Mittelpunkt. Ausgehend von der Frage, ob die Schlüsselstellen des Märchens symptomatisch sind für eine Gesellschaft, in der Menschen oft nicht mehr ihrem eigenen Wissen vertrauen, sondern lieber populistischen, vereinfachten Argumenten folgen, entwickelt sich eine Diskussion, in der die Widersprüche in unserer Gesellschaft, der Verfall der Werte und der Wunsch nach einer Kehrtwende thematisiert werden.
"Natürlich soll ich meinen eigenen Erfahrungen vertrauen, aber ich muss auch aufnehmen, was andere an Erfahrungen mitbringen. Es ist immer eine Mischung", betont Christine Strobl. Münchens Dritte Bürgermeisterin beklagt allerdings den Umstand, dass ein vertrauensvoller Diskurs immer seltener möglich wird. "Manchmal kommt es mir so vor, als ob die Leute nur noch auf ihre eigene Meinung und eigene Erfahrung vertrauen und das, was andere einbringen können, nicht hören wollen. Das merkt man auch in der politischen Diskussion", sagt sie.
Mainstream und Individualisierung
Er entdecke da einen Widerspruch in unserer Gesellschaft, erklärt Winfried Bürzle. Zum einen schwimme man mit in der Mainstream-Gesellschaft und sei darauf bedacht, nicht anzuecken. Schließlich wisse jeder, wie schnell man mit einer anderen Meinung durch Facebook und Co einer regelrechten "Volkshatz" ausgesetzt werden kann. Gleichzeitig habe man es mit einer immer mehr individualisierten Gesellschaft zu tun, in der jeder sein eigenes Kästchen mache. "Die gemeinsame Basis ist nicht mehr so verhanden wie früher", konstatiert der Journalist und Rhetorik-Coach und beschwört die Zeit von Durbridge und Hitchcock herauf, die das gesamte Fernseh-Deutschland vor dem Bildschirm vereinte.
Je komplizierter eine Gemeinschaft werde, desto schwieriger werde die gemeinsame Basis, muss auch Markus Hinz zugeben. Selbst in der Glaubensgemeinschaft gehe jeder seine eigenen Wege und es werde immer schwieriger Leute zu finden, die sich engagieren, sagt der Pfarrgemeinderatsvorsitzende.
Sie wünsche sich, dass Eltern sich trauen, Vertrauen in ihr Kind zu haben, konstatiert Nele Kreuzer. Eltern trauten sich nicht, ihre eigene Sicht zu haben und zu sagen "mein Kind ist anders, aber das ist gut so". Sie folgten lieber dem vermeintlichen Mainstream. Außerdem würden sie ihre Kinder heute viel zu stark kontrollieren. Nicht in der Welt draußen sieht die Familientherapeutin aber die Gefahr, sondern in den Neuen Medien.
Gefahr der Filterbubbles
Dem kann Julia Weinzierler nur zustimmen. Die Online-Sphäre sei gänzlich unreguliert, merkt sie an. Das große Problem aber sieht die Studentin der Kommunikations- und Politkwissenschaften nicht in der Existenz von Mainstreaming sondern in den Filterbubbles, mit denen man aktuell online zu kämpfen habe. Diese eigene, begrenzte Sphäre, mit der sich jeder in der Online-Welt bewegt, hänge direkt mit dem Populismus zusammen, da nur noch die eigene Meinung weitertransportiert wird und die Personen, die hier agierten, das Gefühl bekommen, eine sehr große Mehrheit zu sein. Die wirkliche Mehrheit dagegen schweige, weil sie denkt, die Diskussion sei unter ihrem Niveau.
Das ständige Kreisen um die eigenen Positionen mache es zunehmend schwieriger einen Diskurs anzustoßen, bestätigt Christine Strobl. Aber auch das Fehlen von Raum und Zeit zu intensiven Diskussionen sowie die Verkürzung der Inhalte machen ihr zu schaffen. "Wenn ich in den Medien nur zwei Sätze zu einem bestimmten Thema sagen darf, wie soll ich da etwas Fundiertes zu einem hochkomplexen Sachverhalt äußern?", fragt sie.
Alles nur oberflächlich
"Die Menschen lassen sich nicht mehr aufeinander ein", schließt sich Nele Kreuzer dem an. "Es wird alles an der Oberfläche behandelt." Familien hätten viel weniger Zeit zusammen, selbst eine gemeinsame Mahlzeit am Tag sei nicht mehr selbstverständlich. Damit lasse auch der Informationsfluss in der Familie nach.
Markus Hinz widerspricht und verdeutlicht dies am Beispiel seiner Familie, die regelmäßig zusammen beim Abendessen sitzt. "Am Tisch sind Handys tabu", sagt er. Seine Tochter habe jetzt mit zehn Jahren ein Handy bekommen, da sie ab Herbst ins Gymnasium geht und weiter fahren muss. Außerdem könne sie nun auch mit ihren Freundinnen über WhatsApp kommunizieren. "Man kann sich nicht ganz dagegen stemmen", meint er.
"Da fallen alle Hemmungen!"
Dass Kommunikationsplattformen wie WhatsApp, Twitter und Facebook die Diskussionskultur insgesamt eher zerstören als fördern, darüber sind sich die Gesprächspartner einig. Man habe viel leichter die Möglichkeit sich rauszuziehen als beim Face-to-Face-Gespräch, betont Julia Weinzierler. Und Christine Strobl berichtet, dass sie auf Facebook zum einen immer öfter erleben müsse, dass der Diskurs abgebrochen werde, wenn sie auf einen Kommentar antworte, zum anderen Leute einfach nur Beschimpfungen loswerden wollten. "Da fallen alle Hemmungen!"
Winfried Bürzle holt schließlich noch einmal weit aus: "Warum haben denn die Menschen das Vertrauen verloren?", fragt er und nennt die Protagonisten der Welt – Prominente, Sportler, Politiker und Wirtschaftsbosse, die Vorgänge so lange vertuscht und abgestritten haben, bis sie nachgewiesen wurden. "Bis zum letzten satten Nein", sagt er. "Wenn uns die alle auf den Arm nehmen, brauchen wir uns nicht wundern, wenn Menschen sagen, 'du bist ein Idiot, wenn du noch ehrlich bist'." Da müsse man schon starkes Vertrauen in sich und seine Werte haben, um gerade zu bleiben.
Nicht alles über einen Kamm scheren
Die Kirche sei ein Punkt, der nicht allen gefällt, an den man sich aber halten könne, erklärt Markus Hinz. Die Familie als kleine Einheit und die Pfarrgemeinde als größere Einheit würden die Menschen tragen. Die Kirche als Institution habe auch eine Vertrauenkrise, wirft Christine Strobl ein. "Das wird es immer geben, dass sich Leute nicht so verhalten, wie es eigentlich geboten wäre. Man muss unterscheiden, ob jemand einen Fehler macht oder bewusst etwas falsch macht. Es wird alles vermischt. Bei einer Vertrauenkrise schließt man immer von Einzelfällen auf das komplette System." Es gebe in jedem Bereich viele Leute, die ordentliche Arbeit machten. Wenn alle in einen Topf geschmissen werden, dürfe man sich nicht wundern, wenn sich Resignation breit mache.
Sich als Teil der Gesellschaft zu fühlen, diese Einschätzung habe abgenommen bei den jungen Menschen, konstatiert Julia Weinzierler. Man fühle sich mehr als Teil der eigenen engeren Umgebung. "Die Jugend hat nach den Skandalen in der Automobilbranche nicht viel Vertrauen zu großen Firmen, aber wir waren wohl auch weniger schockiert." Dann spannt die Studentin den Bogen zurück zum Internet und kommt auf die ganzen Fake News zu sprechen. Um Vertrauensverlust zu bekämpfen und wieder in Diskussion zu kommen, müsse man viel früher mit Medienkompetenz beginnen. "Die Online-Sphäre war bei mir in der Schule nie ein Thema und Politik wurde nur in der 10. oder 11. Klasse kurz angeschnitten."
"Vom Nichtwissen erschüttert"
Diese Kompetenzen müssten vermittelt werden, betont sie und Nele Kreuzer wirft sofort ein, dass bei ihren Kindern diese Themen in der Schule gar nicht behandelt wurden. "Kein einziges Mal!" Das wiederum macht Winfried Bürzle fassungslos, der beim Bayerischen Rundfunk mit der Vermittlung von Medienkompetenzbildung beschäftigt ist, und glaubt, den etwa 13-jährigen Schülern, die ihn besuchen, ein gutes Rüstzeug mitzugeben.
Es reiche nicht, wenn man es einmal auf einem Ausflug präsentiert bekommt. Ein Großteil der Jugendlichen gehe mit vermeintlichen Fakten völlig naiv um, kritisiert Julia Weinzierler. Auch Christine Strobl ist laut eigener Aussage immer wieder "vom Nichtwissen erschüttert", wenn Klassen zu ihr ins Rathaus kommen. "Das Fach Lebenskunde fehlt", sagt sie. Die jungen Leute lernten es nicht, Dinge einzuordnen und Quellen zu hinterfragen.
Vertrauen bewahren
Trotz allem was passiere, sollte man ein Urvertrauen in seine Mitmenschen haben, plädiert die Bürgermeisterin abschließend. Auch wenn man mal enttäuscht werde. "Es ist etwas zutiefst Menschliches. Wenn ich nicht an das Gute im Menschen glauben würde, könnte ich meinen Beruf nicht mehr ausüben."
"Ohne Grundvertrauen gehen Sie zugrunde", ist Winfried Bürzles Fazit. Allerdings hält er eine Portion Skepsis für angebracht. "Es sind viele Böse unterwegs", sagt er. "Man sollte lieber zweimal hinschauen, doch wenn man jemanden gefunden hat, dem man vertrauen kann, dann sollte man sich fallen lassen." Und das Wichtigste sei, sich selbst zu vertrauen. Das sieht Julia Weinzierler ähnlich. "Ein Grundvertrauen muss da sein. Aber man sollte sich seines eigenen Verstandes bedienen und reflektieren. "Ich würde es Vertrauen mit Vorbehalt nennen."
Grundstock legen
Nele Kreuzer wünscht sich, "dass die Menschen mehr Verantwortung übernehmen" und zu ihren Fehlern stehen würden. "Im Kleinen, in der Familien sollte man Partner und Kindern etwas zutrauen und zumuten, und vertrauen, dass der andere es schon richtig macht und es auch ein gutes Ende nimmt." Die Familie sieht auch Markus Hinz als den Grundstock, der das Vertrauen schafft für die Gesellschaft. "Vertrauen hängt zusammen mit Verantwortung, nur wenn ich zutraue und vertraue, stehe ich für andere ein. Wenn dieser Grundstock gelegt wird, sind wir auf gutem Weg."
Eine märchenhafte Frage
Das siebte Geißlein, der Jäger in Schneewittchen, Dornröschens Prinz: Wer ist Ihr Märchenheld? Unsere Gäste antworteten:
Winfried Bürzle: "Das Kind in des Kaisers neue Kleider. Es trägt zur Objektivierung der Wahrheit bei."
Markus Hinz: "Für mich gibt es keinen Märchenhelden in dem Sinn. Da in Ihrer Frage drei Gestalten zur Auswahl sind, habe ich mich auf das siebte Geißlein fokussiert. Es überlebt in der Uhr. Diese steht für die Zeit. Das könnte man als Metapher nutzen – aus der Zeit und aus der Geschichte lernen."
Nele Kreuzer: "Mein Held ist Robin Hood, das ist zwar keine Märchengestalt im klassischen Sinne."
Christine Strobl: "Ich habe mit klassischen Märchen schon als Kind nichts anfangen können. Ich wollte immer so sein wie Pippi Langstrumpf, habe mich aber nie getraut."
Julia Weinzierler: "Ich habe eher an klassische Helden gedacht, sonst wäre mir sicher etwas spannenderes eingefallen. So ist mir Frau Holle in den Sinn gekommen, die dann am Ende Gerechtigkeit hat walten lassen."
Unsere Gäste
Bei unserem Sommergespräch diskutierten:
Winfried Bürzle (Bayerischer Rundfunk / Dozent journalistische Nachwuchsförderung und Erwachsenenbildung)
Markus Hinz (Pfarrgemeinderatsvorsitzender St. Nikolaus Neuried)
Nele Kreuzer (Familientherapeutin in der städt. Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche für die Region Laim, Schwanthalerhöhe, Blumenau, Kleinhadern)
Christine Strobl (Bürgermeisterin LH München)
Julia Weinzierler (Studentin der Kommunikations- und Politikwissenschaft)
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Unsere Sommergespräche
Alle unsere Sommermärchen finden Sie online hier: www.mehr-wissen-id.de (Nr. 2506).
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