Ein letzter Gruß mit dem Pinsel
Vom Abschied, vom Tod und vom Sargbemalen
Im Bekanntenkreis in Niederbayern sind wir Exoten. "Die haben den Sarg bemalt", macht es die Runde. "Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt", tönt es weiter. Und: "Es war ein sehr schöner Abschied", sagen diejenigen, die dabei waren.
Drei Wochen zuvor sitze ich mit meiner Mutter im Besprechungszimmer einer Klinik. Mein Vater liegt im Zimmer gegenüber, er ist krank. Sehr krank. Die Rede ist von Flecken auf der Leber, auch die Lunge sei betroffen. An diesem Tag möchte ich wissen, was genau los ist, bisher habe ich alles nur von meiner Mutter erfahren. Der Arzt, ein junger sympathischer Mann, rutscht nervös auf seinem Stuhl hin und her. "Nun", sagt er, "nun, die Leber Ihres Vaters ist praktisch nicht mehr vorhanden, sie ist eine einzige Metastase. Aber wir finden den Herd nicht."
Aussteigen bitte!
Ich blicke aus dem Fenster. Die Blätter haben sich bereits verfärbt, es ist der letzte Wiesnfreitag. Ich denke an das große Kettenkarussell, das sich dreht wie so ein Menschenleben. Wirbelt, auf und ab. Und irgendwann anhält. Aussteigen bitte! "Wie lange hat mein Vater noch?", könnte ich den Arzt jetzt fragen. Tue ich aber nicht. Das klingt wie in einem blöden Film. "Sagen Sie mir die Wahrheit." Nein, ich formuliere es anders. "Von welchem Zeitraum sprechen wir hier?", möchte ich wissen. Das könne man, sagt der Arzt (rutsch, rutsch), so genau nicht sagen. Vielleicht ein paar Monate, ein paar Wochen. Und ja, mein Vater wisse, wie es um ihn steht. "Wir haben mit ihm gesprochen", sagt er. Lernt ihr das eigentlich im Medizinstudium, schießt es mir durch den Kopf. Lernt ihr das, wie man Patienten und Angehörigen den Tod beibringt? Irgendwann werde ich das fragen, nehme ich mir vor.
Fünfzehn Minuten später haben wir ein weiteres Gespräch mit der Leiterin des Palliativteams. Sie wirft einen Blick in die Krankenakte und schüttelt den Kopf. "Man kann es natürlich nicht genau sagen, aber bei dem Krankenbild sprechen wir wahrscheinlich nur noch von Tagen, allenfalls von wenigen Wochen."
Mein Vater soll nachhause kommen. So schnell wie möglich. Für meine Mutter steht das außer Frage. Sie weint. Ein paar Tage noch wird er aufgepäppelt, dann bringen sie ihn heim. Das Palliativteam kommt, ein toller Arzt und eine Pflegefachkraft. Mein Vater macht Scherze. Wie immer. Über den Tod spricht er nicht. Wie er sich seine Beerdigung vorstellt? Er möchte verbrannt werden. Das hat er schon vor Jahren gesagt. Mehr wissen wir nicht. Fragen nicht. Der Palliativarzt sagt später, das war gut so. Wenn ein Patient nicht davon anfängt zu reden, solle man ihn lassen. Eine Woche nach seiner Heimkehr stirbt mein Vater. Ganz ruhig, in seinem Bett. Er hat sich ein langes Leiden erspart. Und uns auch.
Im Bestattungsinstitut dürfen wir seine Geschichte erzählen, die Traueranzeige planen, die Sterbebildchen. Ich habe das Unternehmen ausgesucht, weil ich weiß, dass sie hier das mit dem Sargbemalen anbieten. Uns gefällt die Idee und ich bin sicher, mein Vater hätte es klasse gefunden. "Wir stellen Ihnen die Farben und Pinsel hin und Sie entscheiden dann, ob Sie das machen wollen", erklärt die Trauerbegleiterin.
"Blumen und ein Regenbogen"
Vier Tage nach seinem Tod verabschieden wir uns im engsten Familien- und Freundeskreis von meinem Vater. Der Sargdeckel liegt auf zwei Stützen im Verabschiedungsraum. Auf einem hohen Tisch stehen Pinsel, Farbtuben und Pappteller als Paletten bereit, auf dem Boden ist eine Malerdecke ausgebreitet. Die Trauberbegleiterin erklärt uns, wie mein Vater aussieht, dann öffnet sie eine Schiebetür. Dahinter liegt er im Sarg, zugedeckt mit seiner türkisfarbenen Fleecedecke. Wir können ihn ansehen, berühren und begreifen, was geschehen ist. Dass er tot ist.
Der Sarg ist aus Fichtenholz, noch liegt der Deckel unberührt auf den Stützen. Schließlich mache ich den Anfang. Ich drücke rote Farbe auf einen Teller und tauche den Pinsel ein. Ich könnte meinem Vater einen letzten Streich spielen und "tschüss" auf den Sarg schreiben. "Tschüss" – das ging bei ihm gar nicht. Natürlich ärgere ich ihn nicht. Ich schreibe "Pfiad di" auf eine Seite. Es entstehen Blumen, ein Regenbogen und das Geburtshaus meines Vaters. Meine Mutter malt ein rotes Herz und die Zahl 55. So lange waren sie verheiratet. 55 Jahre. Zwei Stunden dauert diese Abschiedszeremonie. Wir malen, reden, lachen und weinen. Im Hintergrund läuft leise Musik.
Einen Monat später ist die Urnenbeisetzung. Nach der Trauerfeier trage ich das dunkle Gefäß mit dem bunten Blumenkranz über den Friedhof zum Grab. Alles halte ich mit ihr zwischen den Händen: den bemalten Sarg, die Fleecedecke, meinen Vater. Der Abschied war schmerzhaft, aber schön. Für uns war es der richtige Weg. Für meinen Vater auch. Ganz sicher.
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