"Kinder überholen ihre Eltern rasch"
Nach der Flucht Vertrauen fassen: In Übergangsklassen wird nicht "nur" Deutsch gelernt
Wie funktioniert Unterricht in einer Klasse, deren Mitglieder aus verschiedenen Ländern nach Deutschland gekommen sind? Man beginnt mit Floskeln. „Mein Name ist Mario, ich bin 15 Jahre alt, und komme aus Bosnien. Ich wohne seit zwei Monaten in München", berichtet ein Jugendlicher. In seiner Freizeit spielt er am liebsten Fußball. Alle 20 Schülerinnen und Schüler der Übergangsklasse 8 (Ü8) an der Mittelschule Ridlerstraße stellen sich derart vor.
Die Ü-Klasse fasst Schülerinnen und Schüler, die kein Deutsch sprechen oder noch nicht genügend Sprachkenntnisse haben, um dem Unterricht in einer Regelklasse folgen zu können. Einige kommen aus Ost- oder Südeuropa, andere aus Eritrea, Äthiopien, Syrien, Afghanistan oder Kolumbien. Nahezu alle der 13- bis 15-Jährigen sind erst wenige Monate im Land. Zunächst kommt es für sie alle deshalb vor allem darauf an, Deutsch sprechen und schreiben zu lernen.
Viele haben ihre Familie verloren
„Ü-Klassen gibt es an der Mittelschule Ridlerstraße schon seit den 1980er Jahren", berichtet Schulleiterin Eva Maria Gaßner. Sie sind gedeckelt auf maximal 20 Schüler. Meist füllt sich die Klasse im Lauf des Schuljahres durch Neuzugänge. Im Jahr 2014 wurde die Schule jedoch schon im zu Schuljahresbeginn von Schülern geradezu überrollt. Zehn Stunden Deutschunterricht pro Woche bilden den Schwerpunkt des Lernstoffs, daneben wird in der Ü8 auch Mathematik, Sachunterricht, sowie ganz praxisbezogen Wirtschaft (Werken), Soziales (Kochen) und Technik (Textverarbeitung am PC) unterrichtet.
Die Lebenssituation der Teens differiert stark. Viele sind mit ihren Familien nach München gekommen, haben in ihrer Heimat mitunter bereits umfangreiche Schulbildung erhalten. Andere flohen alleine aus ihrem Land oder haben ihre Familie auf dem langen, unberechenbaren Weg der Flucht verloren, und sind hier nun in speziellen Einrichtungen untergebracht.
Kinder übernehmen die Aufgabe des Übersetzers
Um das Sprechen zu üben und um neue Vokabeln zu lehren, hat Klassenlehrerin Claudia Niederberger diverse Bilder mitgebracht. Auf einem ist ein krankes Kind zu sehen, es hat Grippe und Fieber. Eine andere Abbildung zeigt Kinder, die einen Schneemann bauen. Der Schnee, der Schneemann, die Mütze, der Schal. Viele haben drei Spalten im Vokabelheft: das neue Wort in Deutsch, in der Heimatsprache und dazu ein Bild. „Manche tun sich sehr schwer in der Schule – vor allem jene, die schwer traumatisiert sind oder von ihren Eltern gegen ihren Willen nach Deutschland gebracht wurden", weiß Niederberger aus Erfahrung. Viele der Kids sind jedoch hochmotiviert, arbeiten konzentriert, begreifen Neues mitunter sehr rasch. „Ich muss im Winter immer Schnee räumen." Schon werden neu gelernte Worte zu Sätzen aneinandergereiht.
Claudia Niederberger, die Klassenleiterin, kümmert sich nicht nur um die Hausaufgaben und Leistungen, sondern durchaus auch, wenn's private Probleme gibt. „Wichtig ist, ein stabiles Vertrauensverhältnis zu den Jugendlichen und deren Angehörige aufzubauen. Denn nur dann können die Schülerinnen und Schüler angstfrei lernen", betont Niederberger: „In vielen Familien überholen die Kinder in Sachen Sprachkompetenz ihre Eltern rasch, und übernehmen dann die Aufgabe des Übersetzers."
Übersicht und Lehrkräfte fehlen
Vieles habe sich im Lauf der Jahre verbessert, versichert die Schulleiterin: „Während der Schulabschluss bei vielen der Migranten früher an mangelhaften Englischkenntnissen scheiterte, machen die Jugendlichen heute die Fremdsprachen-Prüfung beim Qualifizierten Abschluss („Quali") alternativ in Sprachen wie u. a. Russisch, Spanisch, Türkisch, Dari oder Serbisch.
So manches ist jedoch noch verbesserungsfähig. Hilfreich wäre ein Fundus an Lehrkräften, die gezielt das Fach „Deutsch als Zweitsprache" studiert haben. Unübersichtlich ist zudem das bayerische Bildungssystem. Viele wissen nicht, wie sie welchen Schulabschluss erreichen können. „Ja, das ist eine Wissenschaft für sich", bestätigt die Schulleiterin.
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