"Neue historische Zusammenhänge offenlegen"
Archäologen haben unter dem Schulhof in der Plinganserstraße 28 rund 3.300 Jahre alte Siedlungsstrukturen entdeckt
Bei Bauarbeiten unterhalb des Schulhofs der Grundschule an der Plinganserstraße 28 stießen Arbeiter auf rund 200 archäologische Funde, die teilweise bis in die Mittlere Bronzezeit zurück datiert werden können. Von Mitte März bis Ende Juni legte ein Team von bis zu acht wissenschaftlichen Facharbeitern und Dokumentations-Assistenten des ReVe – Büro für Archäologie Bamberg und München im Auftrag der Landeshauptstadt München auf den etwa 1.000 Quadratmetern in bis zu 3,50 Metern Tiefe die Befunde und Funde frei. Ausgrabungsleiter Jonas Friedrich, verantwortlich für die technische Durchführung der archäologischen Grabung vor Ort und die erste wissenschaftliche Auswertung der Ergebnisse, sprach mit Livia Schommer über die seltenen Funde in Sendling und ihre wissenschaftliche Bedeutung.
"Etwa 3.300 Jahre alte Gruben"
Zuerst einmal: Was wurde alles bei der Ausgrabung in Sendling gefunden? Können Sie die Funde bereits einer bestimmten Epoche zuordnen?
Jonas Friedrich: Es konnten 200 Befunde, also Fundzusammenhänge – besonders Gruben, Schächte, Mauern – dokumentiert werden. Die den Befund zugehörigen Funde – also beispielsweise Scherben, Knochen, Glasreste – werden derzeit noch bearbeitet. Die Funde und Befunde sind zeitlich sehr heterogen, gehören also verschiedenen Epochen an. Die jüngsten sind dabei nur wenige Jahrzehnte alt, die ältesten reichen zurück in die Späte-, oder sogar in die Mittlere Bronzezeit. Bei den bronzezeitlichen Befunden handelt es sich vor allem um Pfostengruben. Diese etwa 3.300 Jahre alten (die Auswertung ist noch nicht abgeschlossen) Gruben sind für uns Hinweise auf Häuser und damit frühen Siedlungsstrukturen genau an diesem Ort. Von den eigentlichen Pfosten ist dabei nichts mehr übrig, allerdings verbleibt dunkles Material an der Stelle übrig, wo das Holz im Laufe der Jahre vergangen ist. Diese Reste kann das geschulte Auge des Archäologen erkennen und aufgrund des Materials, der Form, der Konsistenz, möglicher darin liegender Funde usw. datieren und die Funktion entschlüsseln. Auch die dazwischenliegenden Zeiten sind durch verschiedene Befunde in der Grabungsfläche repräsentiert. Beispielsweise eine mittelalterliche, wohl karolingische Abfallgrube. Diese war sehr fundreich, gefüllt mit zahlreichen Knochen, einem Geweih, einer Gürtelschnalle, mehreren für archäologische Verhältnisse fast vollständigen Gefäßen und weiterer Kleinfunde. Oder ein neuzeitlicher Sickerschacht, und bauliche Reste.
"So nicht erwartet"
Was bedeuten die Funde, die Sie und Ihre Kollegen auf der Ausgrabungsstätte gemacht haben, für die Geschichtsschreibung Sendlings? Welche wissenschaftliche Relevanz haben die Funde?
Jonas Friedrich: Besonders die ältesten – also bronzezeitlichen – Befunde wurden so nicht erwartet und verbessern unser Verständnis der Geschichte des Ortes. Die mittelalterlichen Befunde verstärken die bereits bei vorangegangenen Grabungen erkannten Hinweise frühmittelalterlicher Siedlungs- und Bestattungskultur in Sendling. Die neuzeitlichen Mauern vervollständigen unser bereits aus schrifthistorischen Quellen angenommenes Verständnis der Baustruktur dieser Parzelle.
"Einer Mode unterworfen"
Warum sind Scherben und altes Holz unter der Erde für Archäologen so interessant und wichtig?
Jonas Friedrich: Vornehmlich wurden Keramikartefakte geborgen; daneben auch tierische Reste, also Knochen (und wenige Zähne). In den jüngeren Befunden konnten auch Glasobjekte geborgen werden. Das liegt vor allem an den guten Erhaltungschancen dieser Materialien.
Besonders Scherben eignen sich aufgrund der weiten Verbreitung und zahlreicher Vergleichsfunde gut zur Datierung der Fundzusammenhänge. Damals wie heute waren die Gegenstände einer Mode unterworfen. Plakativ formuliert: Ein Kind möchte nicht das gleiche Geschirr wie die Oma benutzen. Also wurden die Verzierungen, die Randformen usw. verändert. Daneben gab es natürlich auch Fortschritte in der Fertigungstechnik. Zusammengenommen hilft uns das bei der Auswertung des Fundgutes. Auch Holz / Leder wurde viel genutzt. In München sind die Erhaltungsbedingungen für organisches Material allerdings eher schlecht. Was bleibt, sind mit etwas Glück Verfärbungen im Boden. Metalle dagegen waren zu kostbar, um sie einfach wegzuwerfen. Sie wurden recycelt, dadurch, dass sie nur selten in den Boden gelangt sind, ist der Fund eines Metallobjektes immer etwas besonders. Beispielsweise eine Gürtelschnalle und ein kleines Messer aus dem Mittelalter sind hier zu nennen. Archäologie ist immer interdisziplinär. Wir haben Experten für verschiedene Fachdisziplinen mit denen wir eng zusammenarbeiten: Bei Metallfunden sind wir beispielsweise auf Restauratoren angewiesen, bei tierischen Resten geben Archäozoologen weitere Antworten. Bei baulichen Beständen und der Auswertung der entnommenen Mörtelproben können uns Architekten weiterhelfen, Geologen geben Aufschluss über den natürlich gewachsenen Boden …
"Wir erkennen, wo und wie Menschen gewohnt haben"
Können Sie eine Aussage über die Menschen treffen, die hier in der Vergangenheit gesiedelt haben? Wie könnte Sendling und die Gegend zur Zeit der verschiedenen Funde ausgesehen haben?
Jonas Friedrich: Als Beispiel: Wir haben verschiedene Pfostengruben, die wir in dieselbe Zeitstellung datieren können. Daneben wurde auch Hüttenlehm, zum Teil mit Abdrücken von Ästen, gefunden. Das erklärt uns den architektonischen Aufbau der Häuser, die bewohnt wurden. Durch die exakte Dokumentation können so Bereiche der Siedlung jener Zeit nachvollzogen werden. Wir erkennen, wo und wie die Menschen gewohnt haben, an Feuerstellen ihr Essen zubereitet haben, ihre Abfälle in Gruben entsorgt haben…
"Verfeinerung der Hypothesen"
Was passiert nun mit den Fundstücken? Werden sie allesamt aufgehoben und archiviert und auch für die Öffentlichkeit zugänglich sein? Vielleicht sogar in Sendling?
Jonas Friedrich: Die Funde werden dem zuständigen Amt übergeben und vollständig archiviert. Der Grabungsbericht, den wir jetzt gerade erstellen, wird beim Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege auf Anfrage einsehbar sein. Derzeit laufen Verhandlungen zur Integration ausgewählter Fundstücke in das neu errichtete Schulgebäude. Ganz persönlich unterstütze ich das ausdrücklich und halte das für eine vorzügliche Idee. Ziel der Arbeit ist es stets, eine Verfeinerung der Hypothesen zu erreichen und die Entdeckung neuer historischer Zusammenhänge offenzulegen. Denn nur so kann es gelingen, einen festen Bezugspunkt in der Vergangenheit – frei von Ideologien, Fantastereien oder Verklärungen – wissenschaftlich belegt zu entwickeln, der in der Gegenwart relevant und für die Zukunft richtungsweisend ist. Das erscheint mir aufgrund der derzeitig wahrnehmbaren gesellschaftlichen Entwicklungen wichtiger denn je. Die gewonnenen Ergebnisse der historischen Arbeit müssen dafür präsentiert und für alle zugänglich gemacht werden, um einen Bildungserfolg zu erreichen. Die sehr produktive Zusammenarbeit mit allen beteiligten vor Ort wird zu tollen Ergebnissen führen.
"Vollständig dokumentiert und wissenschaftlich abgetragen"
Haben Sie alles, was Sie gefunden haben ausgegraben, oder bleiben Teile der Funde unter der Erde zurück und werden nun bei den folgenden Bauarbeiten zerstört?
Jonas Friedrich: Wir haben die vorhandenen Bodendenkmäler vollständig dokumentiert und wissenschaftlich abgetragen. Die Baugrube ist nun „archäologiefrei“ und kann bebaut werden. Die beweglichen Funde werden eingelagert, von den Befunden bleibt nur unsere Dokumentation übrig.
"In die Vergangenheit eintauchen"
Was beinhaltet die Arbeit eines Bodendenkmalpflegers und was macht Ihre Arbeit so besonders?
Jonas Friedrich: Mehr als die Hälfte der Arbeit eines Archäologen findet im Büro statt. Es sind Listen und Datenbanken zu führen, Zeichnungen einzupflegen, die tachymetrische Vermessung nachzubearbeiten, Recherchearbeiten durchzuführen usw.. Unglaublich spannend wird der Beruf allerdings auf der Grabungsfläche: Ob es stürmt oder schneit, minus zehn oder plus 30 Gard Celsius; die Freude, eine Verfärbung im Boden zu erkennen, Strukturen zu entschlüsseln oder Fundstücke zu bergen, die zuletzt vor hunderten oder tausenden Jahren im Gebrauch waren, ist für mich unerreicht. Der Ausgräber ist der erste Mensch nach vielen Jahren, der mit Hilfe der materiellen Kultur in die Vergangenheit eintauchen kann. Das macht genau diesen Beruf zum Schönsten auf der Welt.
"Etwas ganz Besonderes"
Werden Funde wie diese häufig auf Baustellen in München gemacht?
Jonas Friedrich: Nein. Besonders die deutlichen bronzezeitlichen Siedlungsstrukturen sind etwas ganz Besonderes für Sendling. Aber auch die zahlreichen mittelalterlichen Funde erfreuen jedes Archäologenherz. Die (früh-)neuzeitlichen Befunde und Funde entsprechen dagegen den Erwartungen. Sie sind als Puzzlestück für ein tiefergehendes Verständnis des Alltags, der Probleme, des Lebens im Allgemeinen in der Vergangenheit aber natürlich auch relevant.
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