In fünfunddreißig Jahren ...
Theresa Hannig liest aus ihrem Erstlingsroman „Die Optimierer“ am Dante-Gymnasium
Doch, mit ein bisschen Glück erlebt man das noch als rüstige Seniorin. Es war eine kurze Kopfrechnung, als man den Klappentext überflog: „Im Jahr 2052 hat sich die Bundesrepublik Europa vom Rest der Welt abgeschottet.“ Bundesrepublik Europa? Nein, danach sieht es momentan eher nicht aus, vielleicht wird es ein Kerneuropa sein oder die EU ist dann Vergangenheit. Abschottung vom Rest der Welt? Ja, das schon eher. Der Ruf nach Zäunen, neuen Mauern, Sicherung und Überwachung der Außengrenzen erklingt seit 2015 nahezu unablässig. Weiter: „Hochentwickelte Roboter sorgen für Wohlstand und Sicherheit in der sogenannten Optimalwohlökonomie. Hier werden alle Bürger von der Agentur für Lebensberatung rund um die Uhr überwacht, um für jeden Einzelnen den perfekten Platz in der Gesellschaft zu finden.“ Die Bekannte, die neulich Abend von der Eckkneipe aus per Smartphone ihren Staubsauger steuerte, der zu Hause allein seine Runden drehte, kommt einem sofort in den Sinn. Haushaltsroboter werden dann alltäglich sein, ohne jeden Zweifel. Und die Überwachung der Bürger? Ein skeptischer Blick auf das Smartphone, das neben einem auf dem Schreibtisch liegt. Was tut es gerade? Die Daten seines Standortes senden?
Verstörende Zukunftsvision
Theresa Hannig, Jahrgang 1984, las in der Mensa des Dante-Gymnasiums vor den zehnten Klassen aus ihrem Debütroman „Die Optimierer“ (ISBN 978-3-404-20887-6 ) und entfaltete dabei eine verstörende, manchmal aber auch reizvolle oder zum Schmunzeln anregende Zukunftsvision einer dem Publikum an sich durchaus wohlbekannten Welt. Samson Freitag, der Protagonist des Romans, lebt in München und arbeitet als Lebensberater. Er genießt die Privilegien seiner gehobenen beruflichen Stellung im Staatsdienst, die ihm zum Beispiel erlauben, noch individuell ein Auto zu besitzen und es selbst zu steuern. Freitag ist von dem Sinn seiner Arbeit, nämlich für jeden Menschen den passenden Platz in der Gesellschaft und in der Berufswelt zu finden, und den Vorzügen des gesellschaftlich-politischen Systems, in dem er lebt, überzeugt. Und in der Tat sind dort Ideen wie ein Grundeinkommen für alle oder die Abschaffung der Massentierhaltung verwirklicht, und die Menschen machen einen glücklichen Eindruck. Das zukünftige Leben ist von attraktiven Technologien geprägt, z.B. Kontaktlinsen, die alle bekannten Funktionen und Aufgaben des heutigen Smartphones, Tablets und Computers übernommen haben und die mit den Bewegungen des Augapfels zu bedienen sind: „Auf der Fahrt nach Hause ließ sich Samson mit seiner Linse einen Live-Feed von den Überwachungskameras der Christian-Ude-Straße anzeigen.“ Münchens Stadtbild ist von Modernität, Ruhe und Ordnung geprägt, Autoverkehr so gut wie nicht mehr existent: „Die Agentur für Lebensberatung befand sich in der Münchner Innenstadt, im Palais Leuchtenberg am Odeonsplatz. Nummer 4. Von dem ursprünglichen Gebäude war jedoch nur die rekonstruierte Fassade erhalten geblieben.
Zu seinen Eltern hat Freitag ein liebevolles Verhältnis bis zu dem Tag, als ihm sein Vater einen Gänsebraten serviert: „‚Na, was sagst du? Das ist doch mal ein Sonntagsbraten, oder?’ Samson stand da wie gelähmt und starrte auf den Braten. […] ‚Wie könnt ihr mir das antun?’, flüsterte er heiser.“ Und ab diesem Moment scheint Freitags Leben in allen Bereichen aus den Fugen zu geraten ...
Fragen zur Digitalisierung des Lebens
Nachdem die Zehntklässler 45 Minuten lang mucksmäuschenstill der Lektüre verschiedener Passagen des Romans gelauscht hatten, die die Autorin an einigen Stellen mit Fragen an die Schüler unterbrochen hatte, bestürmten sie nun ihrerseits Theresa Hannig mit Fragen zum Roman, zum Schreiben an sich und vor allem zum großen Bereich der Digitalisierung.
Abschließend ist festzustellen, dass es Nachwirkungen gibt: Die Veranstaltung wirkt nach, weil das große Interesse der Schüler an den Themen des Romans beeindruckte und ihr noch größeres und geradezu als drängend aufgefasstes Bedürfnis, Fragen zur Digitalisierung des Lebens zu stellen und Antworten zu bekommen, nachdenken lässt.
Und der Roman wirkt nach: Die rund 300 Seiten lassen sich schnell lesen, und dann legt man das Buch zur Seite. Aber es lässt einen auch danach nicht in Ruhe, weil man beginnt, das alltägliche Leben mit der in „Die Optimierer“ dargestellten Zukunft zu vergleichen, weil man beim Umgang mit Handy und Computer immer wieder an Zeilen aus dem Roman denkt, weil man die Aussagen und Gestalten unserer Politiker nach der Lektüre etwas anders wahrnimmt und weil man anfängt, „Die Optimierer“ mit anderen literarischen und sonstigen Werken zu vergleichen, und da folgen Orwells „1984“ naheliegend Huxleys „Brave New World“ und Bradburys „Fahrenheit 451“, Bilder aus „Blade Runner“ tauchen auf und gar Kafka wird gedanklich gestreift. Man wird „Die Optimierer“ irgendwann ein zweites Mal lesen, spätestens in fünfunddreißig Jahren.
"Die gesammelten Daten werden nie wieder gelöscht werden"
Die Zehntklässler stellten Theresa Hannig Fragen rund um Digitalisierung, Schreiben, Lesen:
"Facebook behält die Daten trotzdem"
Sie stellen in Ihrem Roman das Sammeln von Daten sehr drastisch dar. Finden Sie die heutige Situation bereits bedenklich?
Theresa Hannig: Ja, wenn ich z.B. an Google oder Facebook und im staatlichen Bereich an das Telekommunikationsüberwachungsgesetz denke. Die von den Konzernen gesammelten Daten werden nie wieder gelöscht werden. Facebook hat nach dem Kauf von WhatsApp dessen Daten übernommen und in seine Datenbanken integriert, trotz der vorherigen Zusicherung, genau das nicht zu tun. Am Ende brummte die EU-Kommission Facebook eine Strafzahlung von 110 Millionen Euro auf. Die Daten hat Facebook trotzdem behalten.
Ist es denn für die Konzerne sinnvoll und möglich, all diese Daten zu speichern?
Theresa Hannig: Ja, im Vergleich zum Wert der Daten sind die Kosten für den Speicherplatz geradezu günstig.
Wann ist die Idee zu Ihrem Roman entstanden? War das ein längerer Prozess?
Theresa Hannig: Die Idee ist 2008 nach der Finanzkrise entstanden. Dann folgte ein längerer Prozess der Entwicklung dieser Idee.
Werden Sie weitere Bücher schreiben?
Theresa Hannig: Ja, der zweite Teil zu „Die Optimierer“ ist schon in Arbeit.
"Sorgfältiger mit den eigenen Daten umgehen"
Was müsste man heute anders machen, damit so eine Zukunft, wie Sie sie im Roman darstellen, nicht eintritt?
Theresa Hannig: Man müsste sorgfältiger mit den eigenen Daten umgehen. Ein Beispiel: Apps speichern und senden den eigenen Standort, auch wenn GPS ausgeschaltet ist, WLAN reicht da schon aus. So können detaillierte Bewegungsprofile erstellt werden. Oder das bekannte Beispiel mit Party-Fotos oder Informationen über das Freizeitverhalten im Internet, was potentielle Arbeitgeber dann nutzen, um Bewerber gegebenenfalls auszusortieren.
"Man muss stärker auf seine Freiheit pochen"
Glauben Sie, dass man jetzt noch grundlegend etwas ändern kann, um die negativen Erscheinungen der Digitalisierung zu vermeiden?
Theresa Hannig: Ja! Man muss stärker auf sein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und persönliche Freiheit pochen, wichtig ist auch das Bewusstsein dafür. Ein negatives Beispiel für die Auswirkungen der Datensammelei auf das wirkliche Leben ist der Service Klout: Da werden Scores vergeben, wie stark man vernetzt ist. Wer eine hohe Reichweite hat, bekommt Upgrades bei Hotels oder Flügen. Das fördert Ungleichheit in der Gesellschaft.
"Man sollte unbedingt wählen gehen"
Kann der Staat etwas ändern, kann man selbst etwas ändern?
Theresa Hannig: Jeder von uns sollte sich kritisch mit den Informationen auseinandersetzen, die er bekommen kann – und glücklicherweise sind wir heute in der Position, über alles sehr gut informiert zu werden. Man sollte unbedingt wählen gehen, um den Kurs der Politik mitbestimmen zu können. Dann sollte man selbst kritisch bei der Wahl der Geräte und Anwendungen sein. Man sollte sich z.B. immer die AGB durchlesen und darauf achten, wofür die eigenen Daten verwendet und ob sie an Dritte weitergegeben werden.
Warum haben Sie für Ihren Protagonisten den Nachnamen Freitag gewählt?
Theresa Hannig: Das ist eine gute Frage. Zum einen ist das der Unglückstag, Freitag, der 13. Zum anderen gibt es natürlich die Anlehnung an die Figur in „Robinson Crusoe“, das ist ein Eingeborener, der trotzdem falsch im System ist.
Warum spielt der Roman in München und nicht in den USA?
Theresa Hannig: Ich selbst habe eine Zeit lang in München gewohnt und kenne daher die Schauplätze gut. Ich finde es wichtig, dass die Geschichte in Europa spielt und nicht irgendwo in den USA, von denen wir nicht unmittelbar betroffen sind. So gewinnt die Geschichte viel mehr Tiefe und Glaubwürdigkeit.
Haben Sie Tipps fürs Schreiben?
Theresa Hannig: Wenn man schreiben will, muss man viel lesen. Und noch mehr schreiben. Man muss für sich schreiben, nicht für ein Publikum. Und man benötigt sehr viel Zeit, weil man das Geschriebene x Mal überarbeiten muss.
Identifizieren Sie sich mit der Figur von Samsons Mutter?
Theresa Hannig: Ja, durchaus. Sie ist kritisch und versucht, sich nicht von den vermeintlichen Wohltaten des Staates einlullen zu lassen.
Zum Thema Fleisch Essen: Sollten wir weniger Fleisch essen?
Theresa Hannig: Über kurz oder lang müssen wir das sowieso. Man muss sich Alternativen zum Fleisch überlegen. Die Massentierhaltung ist problematisch, die sich daraus ergebenden Umweltprobleme dramatisch.
"Wer bei Facebook registriert ist, wird auf Schritt und Tritt verfolgt"
Warum nutzen Sie Twitter, aber nicht WhatsApp?
Theresa Hannig: Ich lehne WhatsApp ab, weil es die Daten meines Adressbuchs ausliest, an Facebook weiterleitet und die Informationen für Werbung und alle möglichen anderen Dienste verwendet. Wer bei Facebook registriert ist, wird auf Schritt und Tritt verfolgt – auch wenn er sich auf anderen Webseiten aufhält. Das lehne ich entschieden ab. Dazu sei aber noch gesagt, dass Facebook nur eines von vielen Sozialen Netzwerken und Unternehmen ist, die ihr Geschäftsmodell auf die Akquisition und den Verkauf von Nutzerdaten aufbauen. Man muss einfach vorsichtig sein, wem man welche Daten warum zur Verfügung stellt.
Haben Sie viel für den Roman recherchiert?
Theresa Hannig: Teilweile schon; das im Roman dargestellte politische System basiert auf Ideen der Politeia von Platon, mit der ich mich in meinem Studium beschäftigt habe. Die technischen Dinge interessieren mich sowieso sehr, weshalb ich da recht gut informiert bin. Schlussendlich spielt der Roman in der Zukunft, was die Faktenlage natürlich vereinfacht.
Haben Sie einen Aufkleber auf Ihrer Selfie-Kamera?
Theresa Hannig: Ja, habe ich (Frau Hannig hält ihr Smartphone in die Höhe).
"Mechanismen, um das Volk zu unterdrücken"
Haben Sie Orwells „1984“ gelesen und war das eine Inspiration?
Theresa Hannig: Ja, natürlich. Das ist einfach ein Klassiker, der als Hintergrundrauschen bei jeder modernen Dystopie eine Rolle spielt. Interessant ist meiner Meinung nach besonders, in welcher Zeit welche Mechanismen von den Autoren als geeignet betrachtet wurden, um das Volk zu unterdrücken: Bei „Brave New World“ sind es Drogen, bei „1984“ ist es Gewalt und bei „Die Optimierer“ grenzenlose Erfüllung aller Wünsche.
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