"Sterben kann unglaublich schön sein"
Hospizleiter Gregor Linnemann im Interview
"Ankommen, bleiben und gehen...", so ist es auf der Homepage des Johannes-Hospiz zu lesen. Seit 2004 betreibt der Orden der Barmherzigen Brüder das Haus in Nymphenburg. Es ist eines von nur zwei Hospizen in München. Auf mehrere Stockwerken verteilen sich zwölf Krankenzimmer, eine Kapelle, Gemeinschafts- und Verwaltungsräume. Menschen, die an fortgeschrittenen und nicht mehr heilbaren Erkrankungen leiden, kommen hierher. Kranke und ihre Familien finden Ruhe, werden mit ihren individuellen Bedürfnissen wahrgenommen, bestmöglich und ganzheitlich versorgt.
Gregor Linnemann ist von Anfang an dabei. Seit 20 Jahren arbeitet der Krankenpfleger in palliativen Einrichtungen; jetzt leitet er das Johannes-Hospiz. Linnemann ist ein großer, drahtiger Mann, aufmerksam, überlegt und in sich ruhend. Zum Interview lädt er in sein großes Büro, hell und mit bodentiefen Fenstern. Es riecht ein bisschen nach Kaffee, der Gastgeber dreht extra die Heizung auf, Isabella-Alessa Bauer, seine Interviewpartnerin von den Münchner Wochenanzeigern, sieht so verfroren aus – eigentlich ganz gemütlich. Nur schade, dass es um ein ungemütliches Thema geht: das Sterben.
"Hausarztprinzip gilt"
Herr Linnemann, wie wird ein Hospiz geführt, wie viele Ärzte sind vor Ort?
Gregor Linnemann: Im Unterschied zu einer Palliativstation sind wir keine Krankenhausstation. Nach bundesweiter Regelung gilt für Hospize das Hausarztprinzip. Das bedeutet, dass niedergelassene Mediziner zwei bis dreimal die Woche hierherkommen und unsere Patienten betreuen.
"Es geht nicht um Gesundung"
Das ist für eine gute Versorgung Schwerkranker ausreichend?
Gregor Linnemann: Ja. Wir zielen nicht auf einen Heilungsprozess ab, es geht nicht um Gesundung sondern den begleiteten Sterbeprozess. Ärzte betreiben einzig Symptomkontrolle, und palliative Symptomatik ähnelt sich sehr. Wichtig ist mehr als Medikation ein Höchstmaß menschlicher Zuwendung. Dieses gewährleistet unser Pflegeteam. Wir haben hier einen außerordentlich hohen Personalschlüssel: Auf einen Patienten kommen 1,3 Pflegekräfte in 24 Stunden. Nur durch diese sehr gute Besetzung können wir individuell auf unterschiedliche, intensive Bedürfnisse unserer Patienten eingehen.
"Wertvoll, einen Raum für sich zu haben"
Sie haben nur Einzelzimmer. Warum?
Gregor Linnemann: Patienten brauchen ihren eigenen Raum. Es geht nicht darum, jemandem das Recht auf Unterhaltung im Zimmer abzusprechen, aber es laufen Begleitprozesse im intimen Rahmen ab, mit den Pflegenden, mit Angehörigen. Besonders für die Familien ist es wertvoll, einen Raum für sich zu haben. Wir hatten das Glück, dass dieses Haus von Anfang an als Hospiz geplant war, deswegen konnten wir Einzelzimmer leicht einplanen.
"Menschen bleiben, bis sie sterben"
In München gibt es nur 28 Hospizbetten, verteilt auf zwei Einrichtungen. Wer hat ein Recht auf ein Bett?
Gregor Linnemann: Nur wer woanders nicht versorgt werden kann – nicht im Pflege- oder Altenheim, nicht im Krankenhaus oder ambulant zuhause – darf ins Hospiz. Die Gesamtsituation eines Patienten entscheidet. Leidet jemand beispielsweise an starken Schmerzen und Atemnot, bekommt er außerdem stark dosiert Morphium und gibt es nächtliche Krisensituationen, die Angehörige schnell überfordern, ist der Fall klar – dieser Patient gehört ins Hospiz. Wir bedienen ein breites Spektrum und nehmen Patienten aus unterschiedlichen Situationen heraus auf. Dabei ist immer klar: Menschen bleiben bei uns, bis sie sterben. Wir entlassen nur in der absoluten Ausnahme noch einmal.
"Wir haben schon Wunder erlebt"
Welche Lebenserwartung haben Patienten, die zu Ihnen kommen?
Gregor Linnemann: Das Wort "Lebenserwartung" streiche ich gerne sofort. Viele Patienten kommen mit einer Prognose, die kann man hier aber tatsächlich vergessen. Wir nehmen es so wie es kommt. Es muss auch niemand nach vier Wochen verstorben sein, weil sonst die Entlassung droht. Die Indikation für einen Aufenthalt im Hospiz ergibt sich aus der Symptomatik, wenn sich Symptome reduzieren und der Patient sich stabilisiert, dann kann man sogar über Entlassungen nachdenken. Wir haben schon Wunder erlebt.
Wie oft kommt das vor?
Gregor Linnemann: Wir haben zwischen 130 und 150 Patienten im Jahr. Wir entlassen zwei, maximal drei.
"95 Prozent Tumorerkrankungen"
Welche Diagnosen haben Ihre Patienten?
Gregor Linnemann: 95 Prozent sind Tumorerkrankungen. Ansonsten neurologische Krankheiten wie ALS, diese haben ab einem gewissen Stadium auch Hospizversorgungscharakter. Vereinzelt Lungenerkrankungen, die Behandlung mit Opiaten nötig machen.
"Patienten können selbst bestimmen"
Wie behandeln Sie die Patienten – deren Körper und Psyche?
Gregor Linnemann: Das ist eigentlich ganz einfach. Es muss nicht das ganz große Aufgebot im Sinne permanenter Betreuung sein. Dieses 'wir sind immer da' kann auch schnell nach hinten losgehen. Es ist bereits viel getan, wenn Menschen nach monate- oder jahrelanger dauernder Therapie nach Schema F zu uns kommen und Ruhe haben, Raum haben. Hier können die Patienten wieder selbst bestimmen, was getan wird und was nicht. Häufig führt das bereits zu einer Entspannung, die sich auf die Symptomatik auswirkt. Bei Bedarf lindern wir Schmerz aber natürlich mit medikamentöser Intervention. Außerdem nehmen wir Angst und den Menschen wahr. Wir vermitteln: 'Du darfst hier in Ruhe sterben'.
"Angehörige sind Teil des ganzen Geschehens"
Was tun Sie für Angehörige?
Gregor Linnemann: Wir betreuen die Angehörigen genauso wie den Patienten. Sie sind Teil des ganzen Geschehens, solange der Patient das will. Wir schmeißen selbstverständlich niemanden raus, aber wir trauen uns schon, im Zweifelsfall zu sagen, dass dauernde Nähe auch schaden kann. Da denkt der Kranke ja, unter diesen Umständen kann er gar nicht sterben. Gesunde Nähe ist gut, wird eine Grenze im Sinne von Beengung überschritten, sprechen wir das an.
"Noch immer ein verdrängtes Thema"
Glauben Sie, dass die Themen Sterben und Tod mehr Raum in der Gesellschaft, in der Diskussion brauchen?
Gregor Linnemann: Für mich ist es so naheliegend über das Sterben zu sprechen, es ist so in mein Leben integriert, aber ja – ich weiß, dass es für viele Familien noch immer ein verdrängtes Thema ist. Wenn, dann wird Sterben nur in vermeintlich selbstbestimmtem Sinne diskutiert: als Möglichkeit, selbst zu entscheiden, wann man sterben will – Stichwort assistierter Suizid. Das bedaure ich sehr, denn ich habe in 20 Jahren Hospizarbeit erfahren, dass Leid gelindert werden kann und Sterben in guter Lebensqualität möglich ist. Sterben ist Teil des Lebens und es kann unglaublich intensiv und schön sein. Niemand sollte darauf verzichten. Ich rate aber allen Menschen, sich mit Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht auseinanderzusetzen, allein schon deswegen, weil beide Dokumente Instrumente der Reflexion sind und dazu anregen, sich Fragen zu stellen oder mit der Familie ins Gespräch zu kommen.
"Aussagen können auf den letzten Metern verändert werden"
Wenn wir schon bei Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht sind: Sind diese Schriftstücke sinnvoll?
Gregor Linnemann: Aus den oben genannten Gründen: ja. Dennoch muss klar sein: Jede Aussage kann auf den letzten Metern verändert werden. Das müssen wir möglich machen und uns danach richten. Wir müssen uns in der Flexibilität bewegen, dass ein Patient Vorformuliertes ändert. Hier im Hospiz machen wir sowieso, was die Patienten wollen. Wir sind immer in der Lage zu reagieren.
"Nonverbale Sprache verstehen"
Können Ihre Patienten alle verbal kommunizieren, was sie sich wünschen?
Gregor Linnemann: Nicht das gesprochene Wort ist entscheidend. Wir spüren, was ein Mensch wünscht, über Mimik und Ausdruck. Unser Team ist sehr gut trainiert auch nonverbale Sprache zu verstehen, diese zu interpretieren und danach zu handeln.
"Menschen in Pflegeberufen fehlen"
Sie arbeiten seit 20 Jahren in der Palliativmedizin. Welche Entwicklung wünschen Sie sich für die nächsten 20 Jahre?
Gregor Linnemann: Es passiert bereits viel. Ich würde nicht sagen, dass wir im Schatten der Politik stehen und missachtet werden, es gibt einen guten Draht. Ich wünsche mir nicht unbedingt mehr Hospize. Ein Ausbau würde palliative Medizin abkapseln, nach dem Motto 'das ist nicht unsere Sache, dafür gibt es Hospize'. Vielmehr hoffe ich, dass es eine massive Entwicklung gibt, was die Implementierung der Palliativmedizin im sonstigen stationären Bereich anbelangt. Die Krankenpflegeausbildung muss entsprechend ausgebaut werden, es müssen in der Fläche – in Pflege- und Altenheimen, auf den Stationen im Krankenhaus – strukturelle Umstände geschaffen werden, unter denen alle Pflegebedürftigen gut versorgt werden können. Fachlich versierte, gut ausgebildete und persönlich belastbare Menschen in Pflegeberufen fehlen. Menschen, die sich der Problematik bewusst stellen und vor Ort ein gutes Sterben möglich machen. Krankenkassen, Träger und Politik müssen mehr Personal ausbilden und einstellen.
Isabella-Alessa Bauer ist inzwischen aufgewärmt. Linnemann weiß, dass Sterben ein ungemütliches Thema ist. Dennoch macht er den Tod vereinbar mit Kaffeeduft und Wärme, zieht ihn heraus aus kalten, harten Vorstellungen – das ist der erste Schritt.
Die Arbeit des Johannes-Hospiz wird nicht vollständig durch Kranken- und Pflegekassen sowie Beiträge der Patienten finanziert. Deshalb sind Spenden notwendig und willkommen: Liga-Bank eG, IBAN: DE 34 7509 0300 0102 2233 50Copyright: Wochenanzeiger Medien GmbH