"Wenn sich Menschen abgehängt fühlen, gefährdet das unseren sozialen Zusammenhalt"
Ulrike Mascher und Andrea Betz über Corona und die Generationen, Armut und Bildung, Sparen und soziale Gerechtigkeit
Die Bundestagswahl ist eine Richtungsentscheidung, finden viele. Die Wähler stellen auch die Weichen, wie wir soziale Gerechtigkeit schaffen. Wie können wir überhaupt generationenübergreifende Armut verhindern? Wo kann der Bund eingreifen, wo das Land? Brauchen wir höhere Steuern, mehr Eigentum, mehr Bildung, um uns und z.B. die Renten abzusichern? Ulrike Mascher ist die Landesvorsitzende des Sozialverbands VdK Bayern. Andrea Betz ist Vorständin der Diakonie München und Oberbayern – Innere Mission München. Beide beantworten die Fragen von Johannes Beetz:
Wie kann man gezielt helfen?
Bayern ist ein Land, in dem es den meisten Menschen gut geht. Gleichwohl hat Corona viele sicher geglaubte Perspektiven ein Stück weit untergraben. Welche Gruppen sind hier in Ihren Augen besonders betroffen und wie kann man diesen gezielt helfen?
"Viele unter Druck gesetzt"
Ulrike Mascher, VdK Bayern: Bayern war schon vor Corona kein weiß-blaues Paradies. 2019 lebte jeder Siebte unter der Armutsschwelle, jetzt dürften es deutlich mehr sein. Die Pandemie hat viele Menschen finanziell ins Straucheln gebracht oder unter Druck gesetzt. Das wissen wir aus unseren Beratungen. Die Nachfrage von Menschen, die Grundsicherung beantragen, weil das Kurzarbeitergeld mit Hartz IV aufgestockt werden muss oder ihnen der Minijob weggebrochen ist, ist deutlich gestiegen. Letzteres betrifft auch viele, die ihre schmalen Renten mit Nebenjobs aufgebessert haben.
Der VdK fordert unter anderem, dass die in der Pandemie etablierte unbürokratische Praxis, beim Antrag auf Grundsicherung die Prüfungen der Vermögensverhältnisse und der Angemessenheit des Wohnraums wegfallen zu lassen, auf Dauer etabliert werden muss. Gerade die erstattungsfähigen Wohnkosten reichen in München hinten und vorne nicht. Für die Miete müssen die Menschen dann ihren Regelsatz angreifen.
Sparen können sie nur beim Essen. Das ist meiner Meinung nach einer der wesentlichen Gründe, warum die ehrenamtlichen Tafeln einen so enormen Zulauf haben.
"Da darf es jetzt kein Sparen geben!"
Andrea Betz, Diakonie München und Oberbayern: Da denke ich sofort an die Kinder und Jugendlichen, insbesondere an die, die bereits vor der Krise sozial benachteiligt waren und Minderjährige mit Migrationshintergrund. Depressive Episoden, Angst- und Erschöpfungszustände aber auch suizidale Handlungen haben zugenommen.
Laut der aktuellen OPSY-Studie der Uniklinik Hamburg-Eppendorf fühlen sich 71 Prozent der Kinder und Jugendlichen stark belastet, sie leiden unter Stresssymptomen, fühlen sich überfordert und geben an mehr Streit in der Familie zu haben. In der Zeit, in der sie nicht in die Schule oder Kita gehen durften, fehlte ihnen der Kontakt zu Gleichaltrigen, der für ihre Entwicklung so wichtig ist.
Das Homeschooling hat viele Kinder und Jugendliche benachteiligt, weil sich ihre Familien Tablet oder Laptop nicht leisten konnten, kein ausreichendes W-LAN zur Verfügung stand oder Eltern beim Lernen nicht unterstützen konnten.
Um die Benachteiligten der „Generation Corona“ zu unterstützen, braucht es daher dringend die sozialen Unterstützungsangebote für Familien wie Erziehungsberatungsstellen, psychosoziale Dienste, Notfallrufnummern, offene Kinder- und Jugendarbeit, Schulsozialarbeit und den Ausbau der Ganztagsbetreuungsangebote. Da darf es jetzt kein Sparen geben!
Wie kann man Armut verhindern?
Viele Menschen fürchten, irgendwann ihre Miete nicht mehr stemmen zu können oder im Alter in Armut abzurutschen. Wie verhindern wir (Alters)armut? Wie sichern wir stabile Renten – und faire? Welche Forderungen hat Ihr Verband da an die Bundespolitik?
"Endlich den Hebel ansetzen"
Ulrike Mascher, VdK Bayern: Armutsbekämpfung ist eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Steigende Inflation und Verbrauchssteuern wie die Mehrwertsteuer belasten kleine Einkommen proportional viel höher. Untere Einkommen müssen deshalb deutlich entlastet, höhere Einkommen mehr belastet werden. An die Steuerpolitik traut sich aber keiner richtig ran, weil man dann mächtige Gegner hat.
Doch diesen Hebel muss eine neue Bundesregierung endlich ansetzen. Der VdK fordert eine deutlich höhere Besteuerung von großen Vermögen und Erbschaften, dazu die Einführung einer Digital- und Finanztransaktionssteuer.
Kurzfristig umzusetzen ist auch die Anhebung des Mindestlohns auf 13 Euro. Warum das so wichtig ist? Ein Stundenlohn unter 15 Euro gilt als Niedriglohn. In Bayern bekommen den fast eine Million Menschen, viele von ihnen müssen trotz Vollzeitjob mit Hartz IV aufstocken. Diese Entwicklung muss beendet werden.
Wie macht man Sozialberufe attraktiver?
Warum schaffen wir es nicht, viele Pflege- und Sozialberufe angemessen zu würdigen und diese Beruf für die Beschäftigten attraktiv zu machen?
"Die Fehler zurücknehmen"
Ulrike Mascher, VdK Bayern: Den Menschen, die in Pflege- und Sozialberufen arbeiten, mangelt es nicht nur an Wertschätzung von außen. Traditionell sind Sorgeberufe weiblich. Und Frauen tun sich bis heute schwer, für den Wert ihrer Arbeit die richtige Anerkennung und Bezahlung einzufordern. Die Corona-Pandemie hat die Wichtigkeit dieser Berufe aber für alle sichtbarer gemacht als je zuvor. Das ist eine Chance, die auch die Arbeitskräfte in mehr Selbstbewusstsein ummünzen könnten. Die grundsätzliche gesellschaftliche Anerkennung ist in meiner Wahrnehmung jedenfalls da.
Sozialpolitisch müssen die Fehler der strikten Sparpolitik im Gesundheits- und Pflegebereich zurückgenommen werden. Krankenhäuser wurden regelrecht kaputtgespart, Gesundheitsämter fast auf Null gefahren, Personalschlüssel immer kleiner gemacht. Das hat sich gerade in der Corona-Pandemie bitter gerächt.
"Es braucht gute Arbeitsbedingungen"
Andrea Betz, Diakonie München und Oberbayern: Die Arbeit für und mit Menschen ist eine wunderbare und sinnstiftende Aufgabe. Menschen, die in Careberufen arbeiten verdienen gesellschaftlichen Respekt und große Anerkennung. An erster Stelle braucht es gute Arbeitsbedingungen, um die Attraktivität der sozialen- und pflegerischen Berufe zu stärken.
Menschen, die sich um andere Menschen kümmern, dürfen dafür nicht mit der eigenen Gesundheit bezahlen. Es braucht eine angemessene Bezahlung – und das bereits in der Ausbildung zu sozialen und pflegerischen Berufen. Dafür müssen die politisch Verantwortlichen sorgen.
Wie nehmen wir alle Generationen mit?
Wie bewahren wir Kinder davor, in prekären Verhältnissen aufzuwachsen? Wie öffnen wir ihnen nachhaltig echte Zukunftsperspektiven? Und wie sorgen wir dafür, dass die Generationen nicht gegeneinander ausgespielt werden?
"Alle Generationen im Blick haben"
Ulrike Mascher, VdK Bayern: Kinder brauchen Chancen. Der Staat muss dafür sorgen, dass sich jedes Kind nach seinen Begabungen entwickeln kann, und zwar unabhängig vom Geldbeutel der Eltern. Der VdK fordert gerade hier in Bayern einen massiven Ausbau der Ganztagesbetreuung und von Ganztagesschulen. Was heute in Kinder und Jugendliche investiert wird, zahlt sich langfristig auch für den Staat aus. Gute Bildung bringt gute Jobs.
Wer mit seinem Einkommen gut über die Runden kommt, braucht für sich und seine Familie im Erwachsenenleben keine Sozialleistungen und im Alter keine Grundsicherung. Vernünftige Sozialpolitik hat alle Generationen im Blick. Ein stabiles Rentensystem ist beispielsweise enorm wichtig für das Sicherheitsbedürfnis aller Bürgerinnen und Bürger, denn niemand will sich beim Blick in die nähere oder fernere Zukunft Sorgen machen müssen.
Eine Rente für alle, wie der VdK das nennt, ist überfällig. Also der Einbezug aller Erwerbstätigen in die gesetzliche Rentenversicherung. Das heißt auch von Selbstständigen unabhängig von Beruf und Umsatz, von Beamtinnen und Beamten, von Abgeordneten und Managern.
"Der Bildungsbenachteiligung entgegenwirken"
Andrea Betz, Diakonie München und Oberbayern: Es braucht eine Kindergrundsicherung und Investitionen in Bildung, um Bildungsbenachteiligung entgegenzuwirken. Dabei müssen wir die individuellen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen beachten. Eltern, die sich überfordert fühlen, müssen Anlaufstellen haben, die sie stärken und entlasten.
Wir müssen die soziale Infrastruktur krisenfest gestalten. Wenn sich Menschen abgehängt fühlen, gefährdet das unseren sozialen Zusammenhalt. Ausgrenzung und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sind in allen Teilen der Gesellschaft zu spüren.
Ich bin ein Fan der Offenen Jugendarbeit. Dort lernen Kinder und Jugendliche, mit verschiedenen Meinungen umzugehen, miteinander über Werte zu diskutieren und sich in der jeweiligen Einzigartigkeit zu respektieren.
Wohin steuern wir?
Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich weiter. Was machen wir falsch – und was müssten wir dem entgegensetzen?
"Das soziale Netz vor Ort aufrecht erhalten!"
Andrea Betz, Diakonie München und Oberbayern: Das Existenzminimum muss ausreichend gesichert sein. Für die teure Stadt München sind die aktuellen Sozialleistungssätze einfach zu gering bemessen. Es liegt auf der Hand, dass man die Schere nicht schließt, indem man Sozialausgaben kürzt, im Gegenteil, die Finanzierung in die soziale Infrastruktur muss deutlich erhöht werden, gerade auch um die sozialen Folgen der Pandemie zu bewältigen und um Teilhabe für alle zu sichern.
Derzeit zeichnen sich zwei diametral entgegengesetzte Entwicklungen ab. Der Bedarf an Sozialleistungen steigt und gleichzeitig verknappen sich die Mittel zur Finanzierung des Sozialen. Die Haushaltsmittel sind knapp. Ein herzliches Dankeschön an die Stadtpolitik, die ihren politischen Schwerpunkt dennoch im Sozialen setzt. Hier müssen jetzt auch Land und Bund die Kommunen unterstützen, um das soziale Netz vor Ort aufrecht zu erhalten.
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