"Lebensrealität vieler Schüler nicht berücksichtigt"
Das "Homeschooling" wird Ungleichheiten und Benachteiligungen verstärken

Rosana Sarpeah studiert Psychologie. (Foto: stayschool)
Manche Schüler profitieren vom "Lernen zuhause", das seit Mitte März für die allermeisten Schüler Alltag ist. "Homeschooling" ist die Notlösung in Zeiten der geschlossenen Schulen. Für viele Schüler werden dadurch indes Benachteiligungen verstärkt. Darauf weist das Team von stayschool.de hin, das die Fragen von Johannes Beetz beantwortete.
"Alle arbeiten ehrenamtlich"
Wer steckt hinter stayschool? Sind das Studenten, Lehrer oder Schüler?
Tilmy Alazar: stayschool.de wurde von ein paar Freunden und deren Bekannten ins Leben gerufen, die aus ihrer täglichen Arbeitspraxis, aus ihrem Studium oder ihrer persönlichen Lebensgeschichte Erfahrungen und Berührungspunkte mit Benachteiligung im Allgemeinen und Bildungsbenachteiligung im Besonderen haben und hatten. Das Team der ehrenamtlich tätigen Menschen hinter der Plattform besteht aus Sozialarbeitern, Sozialpädagogen, Natur- und Sozialwissenschaftlern, Mediengestaltern, Systemadministratoren und weiteren Berufstätigen und Studierenden. Beratend und unterstützend begleitet werden wir von Juristen, einer Werbeagentur und Bildungswissenschaftlern.
Florian Egemann: Der Träger des Projekts ist eine gemeinnützige Organisation. Alle am Projekt Beteiligten arbeiten ehrenamtlich.
"Solidarität in Taten umwandeln"
Wer sind die Helfer? Welche Qualifikation haben sie?
Florian Egemann: Wir arbeiten nach dem Motto "Wer helfen möchte, soll helfen können." Unsere Helfer kommen aus sehr unterschiedlichen sozialen Milieus. Wir versuchen, sie beim Helfen zu unterstützen. Wir planen Beratungsangebote, damit die Helfenden nicht alleingelassen werden. Eine formale Qualifikation fordern wir nicht.
Rosana Sarpeah: Helfer zeichnen sich durch eine maßgebliche Qualifikation aus: Soziale Kompetenz. Im Kern geht es bei stayschool.de darum, die Helfer nicht aufgrund ihrer Ausbildung, eines Studiums oder des gegenwärtigen beruflichen Status zu beurteilen. Vielmehr wird eine Möglichkeit für Personen geschaffen, das jetzt aufkommende Mitgefühl mit Solidarität zu verknüpfen und in Taten umzuwandeln. Für uns ist es zu jedem Zeitpunkt wichtig, dass die Helfer Motivation und Engagement mitbringen. Aus diesem Grund kontaktieren wir diese vorab per Telefon und führen ein kurzes Kennenlerngespräch durch. So ist es uns möglich, einen Eindruck von den Vorstellungen der Helfer bzgl. des zukünftigen Unterrichts zu bekommen und ergänzend, eine persönliche Ebene zu schaffen.
Zusätzlich wird es auf unserer Plattform die Möglichkeit für Helfer geben, sich durch unseren Supervisor zwecks Unterrichtsform, Kommunikation und Unklarheiten Unterstützung zu holen.
"Lernen findet nicht isoliert statt"
Digitaler Unterricht bzw. Homeschooling ist der Rettungsanker bei geschlossenen Schulen: Nicht jeder hat aber die dazu nötigen Geräte zuhause. Woran fehlt es? Und welche praktischen Auswirkungen hat es, wenn ein Schüler Arbeitsblätter nicht ausdrucken oder Arbeiten nicht scannen und seinem Lehrer mailen kann?
Tilmy Alazar: Durch meine berufliche Tätigkeit und den Austausch mit verschiedenen im Bildungs- und Betreuungsbereich tätigen Menschen hat sich gezeigt, dass die Lebensrealität vieler Schüler bei der Umsetzung des Homeschoolings nicht berücksichtigt wurde. Dies betrifft Ressourcen, Medienkompetenz, Unterstützung durch die Eltern, Überforderung der Schüler und Probleme im Elternhaus.
1. Homeschooling setzt voraus, dass sowohl die nötigen technischen Ressourcen (WLAN, Laptop, Drucker, etc.), als auch die räumlichen Ressourcen (Rückzugsraum zum Lernen im Elternhaus oder der Wohnunterkunft) gegeben sind.
2. Die Nutzung verschiedener Lern-Apps und Plattformen benötigt eine Medienkompetenz, die teilweise noch nicht bei allen betroffenen Schüler in gleichem Maße ausgebildet ist. Dies ist jedoch Voraussetzung, um die Angebote nutzen zu können.
3. In meiner Einrichtung haben wir die Erfahrung gemacht, dass entgegen der Behauptungen sehr wohl auch neuer Lernstoff im Homeschooling eingebracht wird. Dafür, aber auch für die Wiederholung des bereits erlernten Stoffes, sind die Kinder und Jugendlichen auf die Unterstützung der Eltern angewiesen. Das unterschiedliche Bildungslevel der Eltern oder auch deren Verfügbarkeit durch z.B. Berufstätigkeit findet beim Homeschooling wie es im Augenblick durchgeführt wird, leider keine Berücksichtigung.
4. Homeschooling erfordert von den Betroffenen ein hohes Maß an Organisationsvermögen. Der Workload muss strukturiert und selbstständig abgearbeitet werden. Wer hierzu nicht in der Lage ist, hat das Nachsehen.
5. Für viele Kinder und Jugendliche ist das Elternhaus kein sicherer Ort. Angebote der offenen Kinder- und Jugendarbeit, die für viele Kinder einen Gegenpol darstellen, stehen im Augenblick nicht zur Verfügung. Unter solchen Bedingungen ist Lernen nur schwer denkbar.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Lernen findet nicht isoliert statt, sondern muss immer im Kontext der jeweiligen Lebenslagen betrachtet werden. Dies wurde bei der Durchführung des Homeschoolings versäumt zu berücksichtigen. Wir brauchen nun so schnell wie möglich ein Homeschooling Plus. Die handelnden staatlichen Akteure sind aufgefordert, Chancengleichheit herzustellen, auch über die Krise hinaus. Denn Bildungsbenachteiligung ist nicht in der Corona-Krise entstanden und wird auch nicht mit ihr verschwinden.
Ungleichgewichte werden verstärkt
Nils Kroll: Es fehlt stellenweise schon der Zugang zu einer Internetverbindung, die den Zugriff auf die Unterrichtsmaterialien ermöglichen würde. Wenn dann hinzukommt, dass im häuslichen Umfeld niemand die Zeit oder die nötigen Kenntnisse hat, ist davon auszugehen, dass eine Auseinandersetzung mit den schulischen Lerngegenständen kaum bis gar nicht zustande kommt. Damit werden meist bereits prekäre Lebenssituationen weiter verstärkt und Ungleichgewichte in der Zugänglichkeit von Bildung und Wissen verschärft. Trotz aller Bemühungen der Lehrkräfte gehört dieses Ungleichgewicht zum deutschen Schulsystem. Immer wieder wird in Studien festgestellt, dass der schulische Erfolg in hohem Maße abhängig von den familiären Ressourcen ist. Neben den fehlenden Teilnahmemöglichkeiten von Schülern scheint es aber auch ein erhebliches Unwissen auf Seiten der Lehrerschaft zu geben, wie digitale Möglichkeiten genutzt werden können.
Keine Unterstützung durch Eltern
Jeder hat ein Handy, jeder hat ein Telefon, jeder hat doch Internet. Ist fehlende technische Ausstattung in Familien wirklich ein Problem, das bei der Vielzahl von Schülern ins Gewicht fällt?
Florian Egemann: Es mag sein, dass nahezu jedes Kind oder jeder Jugendliche ein Smartphone besitzt. Dies allein hilft jedoch nicht, Bildungsbenachteiligung zu verhindern. Lernende sollten begleitet werden. Wenn keiner da ist, um den Bildungsweg zu begleiten, wird es schwierig. Wenn dann noch herausfordernde Lebensumstände wie z.B. Heimaufenthalte oder sprachliche Barrieren hinzukommen, ist der Bildungserfolg gefährdet.
Nils Kroll: Es ist davon auszugehen, dass bei Schülern, denen die technische Ausstattung für Homeschooling fehlt, auch anderweitig die nötigen Ressourcen im Umfeld fehlen, um diesen Umstand zu kompensieren. Hinzu kommt, dass das Vorhandensein eines internetfähigen Endgerätes nicht bedeutet, dass die nötigen Anwendungen bedient werden können, da zu selten digitale Kompetenzen vermittelt werden.
Rosana Sarpeah: Ja, es handelt sich hier tatsächlich um ein Problem, das ins Gewicht fällt. Ein Problem, das nur die Spitze des Eisbergs darstellt. Natürlich kann man denken, dass Smartphones eine Hilfe sind, wenn sonst keine Möglichkeit besteht, die Unterrichtsmaterialien am Laptop einzusehen oder diese mit einem Drucker auszudrucken. Aber realistisch ist es unzumutbar, Kindern und Jugendlichen schulischen Inhaltsstoff eigenständig über einen kleinen Bildschirm vermitteln zu wollen. Die Familien, die keinen Laptop und keinen Drucker zur Verfügung haben, sind oftmals sozial benachteiligt. Sie leben häufig auf engerem Raum, was das Lernen per se erschwert. Auch können in diesen Haushalten die Eltern teilweise keine, für die Kinder und Jugendlichen notwendige Unterstützung bieten.
Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass sich die schon immer vorhandenen Benachteiligungen verstärken werden. Da helfen auch keine 150 Euro Förderung, denn hierdurch werden keine Kompetenzen vermittelt, die für ein erfolgreiches Homeschooling notwendig sind. Vielmehr muss das Konzept der Informationsvermittlung und die Unterstützung durch Lehrer in der Schule zu den Schüler nach Hause geholt werden, damit diese während ihrer Abwesenheit nicht alleine gelassen, sondern weiterhin durch Personen unterstützt werden können. Lernplattformen mit Videofunktion und Helfer kommen diesem Erfordernis unter den aktuellen Umständen am nächsten - setzen jedoch bei weitem nicht dort an, wo die Benachteiligung beginnt.
"Für die wenigsten geeignet"
Lernen bedeutet nicht nur, alleine Vokabeln pauken oder alleine einen Aufsatz schreiben. Gemeinsamer Unterricht ist wichtig, weil Schüler auch voneinander lernen und weil es manchmal auch ganz gut tut, wenn man sieht, dass man nicht der Einzige ist, der etwas nicht sofort versteht. In einer Klasse mit 25 anderen Schülern kann sich jeder zudem gut einordnen, wo er selbst mit seinem Wissen steht und wo er Lücken hat. Diese Selbstsicherheit und Selbstkontrolle ist nicht möglich, wenn ich zuhause alleine lerne. Für wen ist Homeschooling geeignet, für wen nicht?
Florian Egemann: Wir vertreten die These, dass Kinder, die zu Hause gut unterstützt werden, in Zeiten des Homeschoolings profitieren; dass Kinder, die keine oder wenig Unterstützung erhalten, hingegen im Besonderen abgehängt werden. Diese Kindergruppe ist grundsätzlich und in Zeiten des Homeschoolings besonders benachteiligt. Chancengleichheit sieht anders aus.
Nils Kroll: Homeschooling eignet sich für Schüler, die eine gute Motivation am Lernen haben und entsprechend materiell, als auch persönlich (im Sinne von familiärer Unterstützung) ausgestattet sind. Es sollte darauf hingewiesen werden, dass durch Homeschooling ein wichtiger Teil, der schulische Bildung ausmacht, verloren geht: nämlich Beziehungen! Nicht nur eben jene zu den Altersgenossen, sondern auch die zu den Lehrern. Für Schüler, die in prekären Lebenslagen leben, stellen diese Beziehungen oft ein stabileres Gegengewicht zu den Erfahrungen aus dem familiären Umfeld dar. Nicht zu unterschätzen ist weiterhin, dass Lehrer durch den täglichen Kontakt in der Regel emotionale Belastungen der Kinder erkennen können und Unterstützungsangebote anbahnen können. Der Extremfall hier wäre das Erkennen von häuslicher Gewalt oder andere Fälle von Kindeswohlgefährdung. Dies wird massiv erschwert, wenn kein Kontakt hergestellt werden kann. Geeignet ist Homeschooling daher für die wenigsten Schüler, aufgrund der Situation aber die sinnvollste Möglichkeit. Dennoch ist es unverantwortlich, dass es Wochen dauert, bis es Richtlinien und Angebote seitens der Behörden gibt, wie Schüler mit erhöhtem Förderbedarf in der aktuellen Situation unterstützt werden sollen.
"Niemand hat sich auf diese Zeit vorbereitet"
Für die meisten Schüler wird die gegenwärtige Lage noch eine ganze Weile andauern. Was raten Sie Eltern, was Lehrern, was Schülern und ihren Freunden: Wie kommen wir am besten durch dieses Schuljahr durch?
Tilmy Alazar: Diese Krise stellt für uns alle eine ganz besondere Herausforderung dar. Zusammenzuhalten und solidarisch miteinander zu sein, ist meines Erachtens unerlässlich, um die Schwächsten in unserer Gesellschaft nicht zu vergessen. In einer Zeit voller Ängste, Ungewissheiten und dieser ganz realen Bedrohungssituation durch das Virus fällt uns dies besonders schwer. Es gibt viele Initiativen wie z.B. Open the Hotels, #leavenoonebehind uvm., die sich dafür einsetzen, dass niemand in dieser Krise vergessen wird. Diese und andere Initiativen gilt es durch Appelle an die politisch Verantwortlichen, durch Spenden, Petitionen und eigenes Aktivwerden zu unterstützen. Damit alle Menschen die gleichen Chancen haben, sich zu schützen und in Sicherheit zu sein.
Rosana Sarpeah: Transparenz. Homeschooling ist in Deutschland seit über 80 Jahren verboten. Weder Lehrer, Schüler, Eltern noch die Kultusministerien sind für diese Zeit gerüstet. Niemand hat sich auf diese Zeit vorbereitet. Aus diesem Grund ist es unabdingbar, jetzige Schwierigkeiten offen und klar anzusprechen und an diesen so schnell wie möglich zu arbeiten. Niemand profitiert davon, wenn das Problem, der sich entwickelnden Verstärkung von Benachteiligung, negiert wird. Dementsprechend geht es jetzt darum zusammenzuhalten und alle Schüler und Eltern darin zu unterstützen, das Schuljahr möglichst ohne nachhaltig verstärkende Konsequenzen hinter sich zu bringen. Nötige Beihilfe muss geboten und sich aus der Situation ergebende Verbesserungsvorschläge müssen umgesetzt werden.
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