"Ein irrer Gewinn"
Integration wird an der Mittelschule Karlsfeld groß geschrieben - mit Erfolg
„Stell Dich bitte vor,“ ruft Doris Radons, als sie ihrer Schülerin Erleta den gelben Schaumstoffball zuwirft. Die Klasse kennt das Spiel. Wer den Ball fängt, sagt ein paar Sätze über sich selbst und wirft ihn dann dem nächsten zu. Erletas Antwort folgt daher prompt: „Ich bin 13 Jahre alt und komme aus Italien. Ich spreche Albanisch, Deutsch, Italienisch, Englisch und Spanisch. Später möchte ich Rechtsanwältin werden,“ erklärt sie in fehlerfreiem Deutsch und reicht den Kennenlernball an ihren Banknachbarn weiter. „Mein Name ist Alex, ich bin 16, komme aus Rumänien und bin seit eineinhalb Jahren in Deutschland. Meine Hobbys sind Fußball und Musik.“ Und so fliegt der Ball weiter munter durch das Klassenzimmer. Mit jeder Hand, die ihn fängt, wird eine neue Geschichte erzählt. Eine Geschichte von Flucht und Abwanderung, von Hoffnung und Glaube, von Heimat und Neuanfang.
Integration durch Sprache
Erleta und Alex besuchen die „Üa“, eine von zwei Übergangsklassen an der Mittelschule Karlsfeld. Wie ihre 19 Mitschüler haben auch sie vor kurzem ihre Heimat verlassen, um in Deutschland neu zu beginnen. Einige kamen aus Osteuropa, aus Rumänien, Ungarn und Kroatien, andere wiederum stammen aus der Türkei, Thailand, Syrien oder den USA. Die meisten von ihnen sind seit gut einem Jahr an der Schule und wohnen im ganzen Landkreis verstreut. Deutsch sprach bei ihrer Ankunft niemand. Doch Integration erfolgt eben in erster Linie durch Sprache. In Übergangsklassen lernen Kinder von Flüchtlingen, Asylsuchenden und Migranten deshalb peu à peu und ganz in Ruhe Deutsch und werden so auf den Übertritt in die Regelklasse vorbereitet. Dort fehlt den Lehrern schlichtweg die Zeit zur individuellen Förderung. Ein Teufelskreis. Denn wer kein Deutsch spricht, kann nichts verstehen. Und wer nichts versteht, kann auch nichts lernen.
"Kinder dürfen Fehler machen"
In der Klasse von Doris Radons ist das anders. „Die Kinder sollen wissen, dass sie Fehler machen dürfen. Und sie sollen spüren, dass sie willkommen sind,“ sagt die 40-jährige. Der Ansatz der Mittelschule: Zeit nehmen und Zeit geben - zum Lernen und zum Ankommen. Statt nach Alter, sind die Schüler der Übergangsklassen deshalb nach ihrem Deutschleistungsstand aufgeteilt. Doris Radons unterrichtet jene Kinder mit fortgeschrittenen Deutschkenntnissen. Doch das ist nicht der einzige Unterschied zu den Regelklassen. Deutsch wird hier nicht bei trockenen Grammatikübungen gepaukt, sondern spielend leicht bei einer Partie UNO oder Mensch-ärgere-dich-nicht erlernt: „Sie haben alle eine andere Muttersprache und müssen sich beim Spielen zwangsläufig auf Deutsch unterhalten,“ erklärt die Lehrerin das Konzept.
"Bereicherung für Schulleben"
Die Fülle an Sprachen machte ihr das Unterrichten zu Beginn nicht leicht. Da wurden von der 40-jährigen schon mal Kreativität und schauspielerisches Talent abverlangt, wenn es darum ging, ein Wort zu erklären. Eben deshalb unterrichte sie ihre Klasse aber auch so gerne, erklärt sie: „Das Schöne ist die kulturelle Vielfalt. Ich lerne total viel dazu, über unterschiedliche Bräuche und Kulturen,“ schwärmt Radons. Insgesamt 28 Nationen sind an der Mittelschule inzwischen vertreten. Darauf ist der Schulleiter stolz: „Das bereichert unser Schulleben ungemein.“ Denn an der Mittelschule Karlsfeld ist Integration nicht nur eine leere Phrase. Sie wird hier gelebt. Integration, sagt Wummel, „ist unser täglich Brot.“ Das sei schon vor der Einführung der Übergangsklassen im Herbst 2013 so gewesen.
"Große Kompetenz"
Die große Herausforderung sei es nun, den Kindern schulische und berufliche Perspektiven zu bieten. Denn das Potential ist immens, weiß die Klassenlehrerin: „Die Hälfte von den Schülern in meiner Klasse gehört auf die Realschule oder das Gymnasium.“ Peter Wummel unterschreibt die Aussage seiner Kollegin sofort: „Die Übergangsklassen sind ein irrer Gewinn, ein Schatz für unsere Schule, weil sie große Kompetenzen mitbringen.“ Viele der Übergangsschüler versuchen deshalb den Übertritt auf weiterführende Schulen. Mit mäßigem Erfolg. Das liege keineswegs an fehlender Eignung, erklärt Radons. „Gymnasien und Realschulen sind sehr zurückhaltend, nach dem Motto: ‚Es macht natürlich Arbeit’. Das ist ein bisschen schwierig. Da haben wir noch zu wenig offene Ohren von Seiten der weiterführenden Schulen.“
Endstation Mittelschule also? Ganz und gar nicht, erklärt der Rektor. Denn durch einen speziellen Zweig können Schüler an der Mittelschule in insgesamt elf Schuljahren die Mittlere Reife erlangen. Und es über den dritten Bildungsweg bis zum Abitur und an die Uni schaffen. Davon träumt auch Erleta. Denn Jura, das weiß sie genau, kann man mit einem Mittelschulabschluss nicht studieren. Als Anwältin will sie später ein mal für mehr Gerechtigkeit auf der Welt kämpfen. „Und an der Sprache“, weiß ihre Klassenlehrerin, „darf das nicht scheitern.“
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