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Rubrik: Gesamt · Stadtteil: München
"Zuhören ist auch mal schön"
Jede Woche treffen sich Bewohner des Augustinums Neufriedenheim zum Vorlesen
Politik? Ursula Hartmann schüttelt entschieden den Kopf. "Politik hat hier nichts verloren. Davon hört man in den Nachrichten schon so viel", sagt die Seniorin. Geschichte, Wissenschaft, Literatur – das seien die Themen im Leseclub. Jede Woche sucht Ursula Hartmann nach Texten, durchforstet ihre Tageszeitung nach Interessantem. Erklärtes Ziel: Wissenswertes im Leseclub des Augustinums Neufriedenheim vorstellen.
"Vorleseangebot für Sehbehinderte und andere", mit diesen Worten wird die Leserunde im Wochenplan der Seniorenresidenz angekündigt. Zum harten Kern der Gruppe gehören neben Ursula Hartmann auch Gertrud Gies und Annelies Hofmann. Jeden Freitag laden die Seniorinnen um 15 Uhr zum Vorlesen in die Galerie ein.
Mit dem Zug durch Russland
Den Anfang macht an diesem Tag Ursula Hartmann. Sie hat sich für eine Reisereportage entschieden und nimmt die Zuhörer mit auf eine Zugfahrt durch Russland. Einige der Teilnehmer – an diesem Nachmittag sieben Frauen und ein Mann – lauschen mit geschlossenen Augen, genießen sichtlich das Eintauchen in den Vorlesestoff. Hartmann und Gies nehmen sich viel Zeit für ihre wöchentliche Auswahl. "Wir kennen ja die Leute, die hierher kommen und wissen, was sie in etwa interessiert", sagt Hartmann. Sie habe die Russlandreportage noch "mit Bleistift und Lineal bearbeitet, sonst wäre der Text viel zu lang gewesen." Gertrud Gies übernimmt die nächste Runde. Sie hat einen Bericht über den im vergangenen Jahr verstorbenen Journalisten Peter Scholl-Latour mitgebracht. Weiter geht es mit einem Wasserfloh und dem Titanosaurus. Ursula Hartmann und Gertrud Gies sprechen sich vorher nicht ab. Jede wählt die Texte, die sie für geeignet hält. "Wenn ich heute auch eine Reisereportage über Russland dabei gehabt hätte, hätte ich das nicht vorgelesen, sondern für einen späteren Termin aufgehoben", sagt Gies. "Das wäre ja sonst zu ähnlich gewesen."
"Einige Bewohner lechzen nach Vorlesen"
Seit wann es den Leseclub schon gibt, wissen die Seniorinnen nicht so genau. "Bestimmt schon seit den 1990er Jahren", schätzen sie. Warum sie sich so sehr für das Vorlesen einsetzen? "Ich habe ein gutes Leben hier", sagt Gies. "Ich bekomme viel und möchte auch etwas geben. Außerdem ist es auch schön, mal zuzuhören." Und Annelies Hofmann fügt hinzu: "Es gibt Bewohner hier, die nicht mehr selbst lesen können und nach Vorlesen lechzen."
In der Regel lesen die Seniorinnen aus Tageszeitungen vor. "Es wäre doch auch mal wieder etwas, aus einem Buch vorzulesen", regt ein Bewohner an. Er erinnere sich daran, dass es das auch schon im Leseclub gegeben habe. Hofmann hat ihre Bedenken. "Ein Buch muss man ja in Fortsetzungen vorlesen. Wenn ein Zuhörer einmal fehlt, hat er eine Lücke", argumentiert sie. Vielleicht sei es mit Kurzgeschichten möglich. Da müsse man das Passende finden.
Erfahrungen mit dem Vorlesen hat Ursula Hofmann schon vor Jahren gesammelt. "Irgendwann hing da ein Aushang im Gasteig. Es wurden Vorleser gesucht, die Texte für blinde Menschen auf Band sprechen", erinnert sie sich. Das habe sie gemacht. "Fünf Jahre waren das ungefähr. Bis mein Aufnahmegerät kaputt gegangen ist", sagt sie.
Gut sortierte Bibliothek
Doch nicht nur im Leseclub spielt das Thema Lesen eine Rolle im Augustinum. Es gibt einen Leseraum und eine gut sortierte Bibliothek. "Wir haben einen Bestand von gut 2000 Büchern", sagt Irmgard Schwarzkopf, selbst Bewohnerin der Seniorenresidenz. Gemeinsam mit Elisabeth Schegg öffnet sie die Bibliothek jeden Dienstag von 9 bis 11 Uhr und hilft beim Stöbern zwischen den gefüllten Regalen. "Wer aus gesundheitlichen Gründen nicht in die Bibliothek kommen kann, dem bringen wir die Bücher ins Appartement", sagt Schwarzkopf.
Zurück zum Leseclub. Es dämmert, die Vorlesestunde ist fast um. Gerade entspinnt sich noch eine kleine Diskussion rund um den Artikel über den Titanosaurus. Es geht um die Knochen der Dinosaurier, deren Gewicht und Größe. Diskutieren ist gut. Findet Ursula Hartmann. So lange es nicht um Politik geht. Denn da habe man vielleicht doch unterschiedliche Meinungen. "Und dann schlagen wir uns noch die Köpfe ein", sagt sie mit einem Augenzwinkern. Die Politik muss draußen bleiben.
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