"Kinder spüren, dass sie in einem Boot sitzen"
Kriegsflüchtling und Ingenieurskind: Ü-Klassen helfen, in der Schule zurechtzukommen
„Im Grunde sind es ganz normale Kinder und Jugendliche“, sagt Schulleiterin Ruth Hellmann von der Wittelsbacher Mittelschule in Germering. Gemeint sind die Schüler der Übergangsklasse (Ü-Klasse): 20 Kinder mit geringen oder gar keinen Deutschkenntnissen bekommen hier einen speziellen Unterricht, um in ein oder zwei Jahren in die Regelklassen integriert werden zu können.
Die Unterschiede sind gewaltig
Für Ulrike Speidel sind ihre Schüler eine besondere Herausforderung. Da gibt es zum Beispiel Muhammed (Kindernamen von der Redaktion geändert). Der Junge ist mit seinen Eltern vor dem Krieg in seiner Heimat geflohen. Der Junge kann weder lesen noch schreiben und spricht nur arabisch. Maria stammt aus einem südosteuropäischen Land. Sie hatte noch nie eine Schule besucht, kennt Schulpflicht und Pünktlichkeit nicht und dann ist da noch Megan aus einem englischsprachigen Land, die dank der Förderung ihrer Eltern schon nach wenigen Monaten in die Regelklasse wechseln konnte. „In Mathematik sind die Unterschiede am größten“, erklärt Ulrike Speidel. Einige ihrer Schüler lösen bereits Gleichungen, anderen können noch nicht einmal die Grundrechenarten.
Passende Lehrmittel fehlen
Auch wenn einige Fächer mit zwei Lehrkräften unterrichtet werden und es Förderstunden gibt, reiche das bei weitem nicht, denn die Klasse sei mit 20 Schülern einfach zu groß, findet Ulrike Speidel. Es fehlten auch Differenzierungsräume. „Hier muss die Schule improvisieren“, berichtet die Schulleiterin.
Beide wünschen sich außerdem adäquate Lehrmittel. Vor allem für Jugendliche seien die ABC-Fibeln mit ihren kindlichen Geschichten einfach nicht passend. Ungünstig sei, dass es in Germering nur eine einzige Ü-Klasse in der Grundschule und die Ü-Klasse für ältere Schüler an der Mittelschule gibt. Die Nachfrage ist aber größer und jüngere Mittelschüler müssten – falls es überhaupt noch einen freien Schulplatz gibt - nach Olching oder Puchheim. Viele Eltern lehnen das ab. S-Bahnfahrten zu entfernten Schulen und Geschwister, die an unterschiedliche Schulen gehen, komme vor allem für Familien, die schon auf der Flucht darauf achten mussten, nicht auseinandergerissen zu werden, überhaupt nicht in Frage. Die Kinder werden dann wohl oder übel in die Regelklassen geschickt, aber dort bekommen sie nicht die optimale Sprachförderung.
Nach einem Jahr unter den Besten
Sehr ehrgeizigen und begabten Schülern finanziert die Germeringer Sozialstiftung viermal in der Woche zusätzlichen Deutschunterricht. Während ihre Klassenkameraden mit dem ABC kämpfen, beschäftigen sie sich bereits mit Modalverben und dem deutschen Satzbau. Beispielhaft ist die Schulkarriere einer jungen Albanerin, die ohne Sprachkenntnisse nach Deutschland gekommen war. Die Vorzeigeschülerin war bereits nach einem Jahr unter den Klassenbesten. Nach der Mittleren Reife auf dem M-Zweig wechselte das Mädchen auf das Gymnasium.
Vereine können den Kindern viel helfen
Ein großer Erfolg ist für viele andere bereits, wenn die Schüler in ein bis zwei Jahren problemlos in der Regelklasse weitermachen können und wenn sie sich in ihrer neuen Heimat einleben konnten. Es wäre hilfreich, wenn auch die örtlichen Vereine und Einrichtungen mithelfen, meint Speidel. Kostenlose Mitgliedschaften in Sportvereinen oder ein kostenloser Instrumentalunterricht bei der Musikschule könnte den Kindern sehr helfen.
Kinder haben keine Probleme untereinander
Trotz aller Unterschiede und den teilweise schweren Schicksalen, die die Kinder haben – „bei uns wird auch viel gelacht“, versichert Ulrike Speidel. Ihr gefällt ihre Arbeit mit den Ü-Kindern. „Man bekommt Einblicke in andere Lebenswelten“. Sehr dankbar seien die Schüler, denn der Unterricht würde Abwechslung in den oft trüben Alltag bringen. Was außerdem auffällt: „Die Kinder haben keine Probleme untereinander, sie gehen sehr respektvoll miteinander um“. Die Kinder würden spüren, dass sie im Grunde „in einem Boot sitzen“. Besonders freut sich Ulrike Speidel, wenn sie einen ihrer ehemaligen Schüler nach einigen Jahren wieder trifft. „Mein erster Schüler ist jetzt Busfahrer in Germering und hat eine Familie mit zwei Kindern“, erzählt sie stolz.
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